TAGESMÜLLER FOLGE VII-VIII

■ Griechen und Polen an verkommenen Ufern

Gar tragisch geht's in Griechenland zu, auch wenn die Tränentüte noch so deutsch ist. Sie will ausgedrückt sein, daß der Kehlkopf nur so zittert und den Bühnenschlamm, den reichlichen, benetzt zum Nutz und Frommen der Lemuren, Penner, schwerveilchenaügigen Frauen, die sich suhlen allhier am „Verkommenen Ufer“ vielstundenlang: Autisten aller Länder vereinigt Euch! So also stellt man sich in Griechenland, namentlich beim Attis Theater in Athen, das hier am Wochenende Heiner Müller halber weilte, die Avantgarde vor. Sie schreit ohne Unterlaß, die Avantgarde, und die Suche nach dem „Medeamaterial“ spitzt sich stahlblinkend schließlich zu auf die Frage: Wieviel Messer braucht der Mensch, damit er furchterregend fuchteln kann?

Das Studio Theater Warschau kommt bei derselben Dichtung ganz ohne Mordmaterial, fliegende Schmuddelkostüme und sich überschlagende Stimmen aus. Dafür singen sie den ersten Teil des angenehm unverständlichen Textes solochoristisch, kontrabassunterlegt und klarinettenbegleitet und fahren reichlich Personal und Bilder auf und zwar solche ohne bedeutungsschwangeren Hängebauch. Nun gut, die Wartehalle, in der wir Menschen doch alle immer irgendwie sitzen, geschenkt. Und auch das Wühlen, diesmal im Sägemehl aus Müllers Mühle, scheint sich kaum vermeiden zu lassen. Aber daß einer lila in Flaschen pinkelt, daß die Kontrabässe grün sind und die Gummistiefel weiß, daß Medea dick, dünn, ist, schmuddlig, rosahaarig, tailleurelegant, angepunkt, raumpflegend wändeputzend, rabenmütterlich kinderwagenschiebend, daß all die Medeas aufgereiht wie die Hühner auf der Bank sitzen, vor jedem Hinterkopf säuberlich die Pissflaschen sich abheben, daß die Jasons glänzende Blechplatten zu fehlenden Gräbern tragen, ihre Hemden über den Bäuchen spannen und ihre Jacken über dem Kopf - daß egal ist, warum die Pisse lila ist und warum die ... war einfach ganz prima und - na was wohl - sehenswert.

Gabriele Riedle