Ein deutscher Ort in Polen

In Auschwitz trafen sich ehemalige Häftlinge und Jugendliche aus Frankreich, Polen und der Bundesrepublik  ■  Aus Oscwiecim A. Smoltczyk

Wiktor Grünhut, Mojzesz Leuchter, Hermann Lichtblau, Samuel Weintraub - welch schöne Namen; Wörter aus Deutschland - und wie schön wäre es, sich über sie beim Wiedererkennen in der Fremde zu freuen. Aber sie hängen an der Mauer des alten jüdischen Friedhofs in Krakau.

60 Kilometer weiter westlich des Friedhofs lügt sich die Natur über die Rauchfahnen aus dem nahegelegenen Chemiewerk (es soll früher das „Buna-Werk“ geheißen haben) hinweg: halbverwehte Pusteblumen, knarrende Frösche - es ist grün, warm und staubig. Und wieder ein deutscher Name. Jacques Grynberg. Seine Familie floh vor gut 50 Jahren aus dem Osten des Landes. Wegen der Pogrome gegen die Juden. Sein Vater war Schuhmacher, der Sohn wurde Polsterer, in Paris, wo aus Hans Jacques wurde. Aber auch der neue Name nützte nichts, als die ersten Viehwaggons in Compiegne abfuhren in Richtung Osten, und keiner mehr nach Namen fragte. Und wenig später stand Familie Grynberg wieder in Polen, das nun „Das Generalgouvernement“ hieß.

Grynberg müßte die Gegend hier kennen; die Bäume, die Gehöfte müssen auch früher schon hier gestanden haben. Wenn nur nicht alles so anders wäre: „Damals gab es hier keine Vögel. Wegen des Rauchs. Und auch kein Gras.“ Nur der Name ist noch geblieben. Auch ein deutscher: Auschwitz.

Auschwitz ist nicht nur ein deutsches Wort, sondern auch ein bloßer Ort. Darin liegt gerade die Schwierigkeit: „Betroffenheit? Ich fand nichts Erschreckendes an der Gedenkstätte. Vielleicht sollte man das Gelände mit Unkrautvernichter wieder so kahl machen, wie es damals gewesen ist.“ Gregory ist 19 und kommt aus der Picardie, im Norden Frankreichs. „Schlimm war der Korridor in der französischen ständigen Ausstellung, wo man an Hunderten von Porträtfotos von Häftlingen vorbeiläuft. Die sehen einen genau an.“ Und sind doch alle tot. Schwer vorstellbar. Hans Frankenthal ist einer, der überlebt hat und dem die Nachbarn kein Wort glaubten, als er im Herbst 1945 nach Schmallenberg im Rheinland zurückkehrte. Danach erzählte er nichts mehr. Ging zur KPD - trat aus, als die Sowjetunion 1967 die Beziehungen zu Israel abbrach; ging zur CDU und verließ sie wieder, als ein nachgeborener Bürgermeister „einige reiche Juden erschlagen“ wollte, um die Gemeindefinanzen zu sanieren. Egal wo er jetzt hingehen wird - es gibt wohl keinen Ort, wo man sich mit einer Nummer auf dem linken Unterarm niederlassen könnte. Und der Ort Auschwitz? „Ihr müßt auf den Boden gucken. Überall hat jemand gelegen - und diese Schweine in Bonn zahlen keinen Pfennig, lassen das alles verrotten hier.“ Auf dem Boden ist nichts zu sehen. Nur nach Regengüssen werden kleine helle Plättchen hervorgewaschen. Asche, denn das Krematorium liegt nur wenige Schritte entfernt.

Die jungen Franzosen fotografieren die gesprengten Mauern und die Wachtürme. Denn die sehen so aus wie auf den bekannten Fotos. Bilder von Bildern. „Aber nicht die Baracke dort drüben knipsen. Die hat ein amerikanisches Fernsehteam aufgestellt und stehenlassen.“ Die Führerin durch die Gedenkstätte erzählt die Geschichte des Lagers und nennt Zahlen, die beeindrucken sollen, aber umso fremder bleiben: vier Millionen Häftlinge, vier Millionen Tote. Es ist heiß und riecht nach Klee. Im Zigeunerlager steht das Gras sehr hoch zwischen den Schornsteinen: „Die sind alle original“, sagt die Führerin. Manche schreiben mit in ihren Notizbüchern, auf deutsch, polnisch oder französisch. Deutsche Wörter werden da stehen: „Zwillingsexperimente“, „Zyklon-B-Sendung“, „Entwesungsabteilung“, „Todesmarsch“, „Endlösung“. Auschwitz - ein Ort so fremd wie die Pyramiden.

Antwort und Fragezeichen

„Nein.“ - Einspruch von deutscher Seite. Karl ist beleibt, Franke und Mitglied in der VVN, der Vereinigung der Verfolgten und der Antifaschisten. Für ihn scheint dieser stille Ort kein Knäuel zu sein, das sich bei jedem Zugriff, bei jedem Versuch des Begreifens neu verwickelt. Eher ein Knotenpunkt klar einsehbarer Tendenzen. Die schon vom Gras überwachsenen Löffelberge (manche lassen noch Initialen erkennen) hinter dem Krematorium, die anderen Spuren und Erzählungen der Entkommenen, sind ihm Folge und Ausdruck langer Kausalketten, die von einem Prinzip, dem Kapital gesteuert nach Auschwitz führten: „Antifaschismus heißt, die Ursachen für einen neuen Faschismus verhindern.“ Auschwitz die beste, weil eindringlichste Illustration etwas anderen. Auschwitz - mehr Antwort als Fragezeichen.

Das leuchtet ein. Schließlich leben wir in der Gegenwart, und es gibt mehr als genug zu tun. In Alains Klasse in den Vogesen etwa. Da schaffte es ein Geschichtslehrer, unter seinen Schülern 16 für die rechtsextreme Front National zu organisieren. Als Mitschüler und Eltern mit Flugblättern an die Öffentlichkeit gingen, wurde der Pädagoge entlassen. „Bravo!“ - Professor Michal Pirko, ehemaliger Offizier der polnischen Untergrundarmee und leitender Funktionär des Veteranenverbands „Spovid“, ist begeistert.

Antifaschistisches Engagement. So wird Vergangenheit in Zukunft verwandelt und der bekanntlich noch fruchtbare Schoß trockengelegt. Doch kann die „Lehre Auschwitz“ die Frage beantworten, weshalb die Front National heute in Frankreich soviel Anklang findet? Jacques Grynberg: „Le Pen hat die Begriffe Patriotismus und Nation usurpiert. Wir müssen sie uns wieder aneignen. Schließlich war es das Vichy-Regime, das Frankreich verraten hat.“ Damit spricht er den Polen aus dem Herzen. Den Deutschen nicht. Überhaupt nicht: „Schließlich wurden die Befehle hier auf deutsch gebrüllt. Und im Namen der deutschen Nation“, meint eine ehemalige Freiwillige der Aktion Sühnezeichen. Auch wenn nicht jeder wie sie einen Großvater habe, der zur Zeit der Deportation der belgischen Juden Militärjurist in Brüssel war, könne keiner sicher sein, nicht auch in seiner Familie auf schwarze Flecken zu stoßen. „Vor dieser Unsicherheit, in die man in Auschwitz gerät, schützt keine Nationalität. Wenn auch die Chance, fündig zu werden, für uns Deutsche größer ist.“ Sie als Deutsche könne den Franzosen auch nicht vorwerfen, ihre Kollaborateure nicht verurteilt zu haben.

Sonderverantwortung?

Maurice Cling wurde als 15jähriger aus Paris nach Auschwitz deportiert. Nach der Evakuierung des Lagers schleppten ihn die Nazis auf dem „Todesmarsch“ bis nach Garmisch -Partenkirchen. Es ist zum ersten Mal seit dem Krieg, daß er mit jungen Deutschen spricht, und deren Schuldbeladenheit macht ihm Angst. Sonderverantwortung der Deutschen? Diese einzig diskussionswürdige deutsche Frage wird von den Franzosen zurückgewiesen: „Ihr müßt genauso den Mund aufmachen wie wir. Schließlich hat Frankreich auch in Algerien gefoltert.“ Philippe aus Paris geht sogar noch weiter: „Hier in Auschwitz fühle ich mich wie ein Deutscher. Schuldig. Ich bin gegen Sonderverantwortung, aber nicht gegen Verantwortung.“

Vichy, Algerien, Vietnam - ist Auschwitz überall? Auch in Polen? Die Frage bleibt nicht aus: „Wie steht es in Polen, wo alle faschistischen Parteien verboten sind, mit antisemitischem und autoritärem Denken?“ - „In Polen gibt es keinen Rassismus, weil es nur eine Nation und nur eine Rasse gibt“, wird die Antwort eines Mitglieds der sozialistischen Jugend übersetzt. Womöglich nicht ganz korrekt. Dennoch wird in diesem Moment deutlich, wieviele verschiedene Wege an diesen Ort führen. Die einen stoßen hier auf ihren Nazi -Großvater, die anderen auf Le Pen und die dritten schließlich auf eine symbolische Klammer in einem zerrissenen Land. Polens ungeliebte Regierung braucht ihre antifaschistische Tradition als Legitimation. „Antifaschismus“ meint für sie das Zusammenstehen gegen den äußeren Feind. Und auf keinen Fall (wie etwa für die Opposition in Polen) Suche nach autoritärem Denken im Lande. Auschwitz als Klammer der Gesellschaft, nicht als Seziermesser.

Deswegen werden bei diesem Treffen 60 Kilometer westlich von Krakau viele Fragen, die reale Konflikte in der polnischen Gesellschaft ansprechen, abgeblockt. Dadurch wird manches sehr schwierig. Und es gibt Streit. Nicht wegen Solidarnosc, deren Mythos im „realpolitisch“ gewordenen Frankreich stark gelitten hat, sondern wegen eines leichten Mißtons, eines blinden Flecks: „Ich bin schockiert, daß der Direktor der größten KZ-Gedenkstätte eine 20 Minuten lange Rede hält und das Wort Jude nur ein einziges Mal ausspricht. Es wird immer nur von 'polnischen Opfern‘ gesprochen.“ Maurice Goldstein ist seit 1975 Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. „Der erste west-östliche Präsident seit 1968“, betont er. Denn 1968 wurde in Polen vom damaligen Innenminister General Moczar eine antisemitische Kampagne geführt, die nicht zuletzt vom Veteranenverband „Spovid“ unterstützt wurde. An diesem Einbruch der Gegenwart zerbrach das Auschwitz-Komitee, zumindest für die nächsten sieben Jahre.

Aber das ist lange her, und Auschwitz ist vielleicht nicht der Ort, alte Wunden aufzureißen... Denn es bleibt nicht mehr viel Zeit. In wieviel Jahren wird der letzte Überlebende gestorben sein? Wer soll dann erzählen können, daß „hier überall jemand gelegen hat?“ „Es geht darum, daß wir neue Zeugen schaffen“, sagt Goldstein. Deswegen wird geredet, geredet und geredet. Bis spät nachts. Und es wird wie gesagt - gestritten. Denn vielleicht ist dieser Ort ein guter Ort zum Streiten. Vielleicht bedurfte es gerade des Treffens in Auschwitz, um die diffuse antifaschistische Einigkeit aufzulösen und sich darüber klar zu werden, auf welch verschiedenen Wegen Franzosen, Polen und Deutsche an diesen Ort zurückkommen. Zurückkamen: Anfang Juni, beim ersten deutsch-polnisch-französischen Seminar in der Jugendbegegnungsstätte der Aktion Sühnezeichen in Oswiecim.