Amerikanische Paranoia mit tödlichen Folgen

Auch die jetzige Version des Pentagon, wie es zum Abschuß des Iran-Air-Flugzeugs über dem persischen Golf kam, hat noch viele Unstimmigkeiten / Die „Vincennes“ hatte sich im Golf einschlägig hervorgetan / Ein Versuch, die Katastrophe zu rekonstruieren  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

Die 290 Passagiere des iranischen Airbusses bereiteten sich auf einen ganz gewöhnlichen Flug vor. Jeden Sonntag und Dienstag hob Iran Air-Flug 655 um zehn Uhr morgens zu dem knapp 30minütigen Sprung über die Straße von Hormuz ab. Die Sitze waren meist mit iranischen Fluggästen gefüllt, die das Warenangebot im Ölscheichtum Dubai, auf der anderen Seite des persischen Golfes, zu einem Einkaufstrip lockte. Auch die dreiviertelstündige Verspätung hielt sich im üblichen Rahmen.

US-Navy-Kapitän Will C.Rogers, der das Kommando auf dem Kreuzer „USS Vincennes“ führt, nimmt den Punkt, der um 10 Uhr 47 auf seinem Radarschirm auftaucht, nur am Rande wahr. Seine Aufmerksamkeit wird von vier iranischen Booten in Anspruch genommen, die kurz zuvor einen seiner Hubschrauber mit Gewehrfeuer belegt hatten. Bei dem Gefecht wurden zwei der vier iranischen Boote von der „Vincennes“ aus versenkt.

Dann wird sein Augenmerk aber doch auf den Radarschirm gelenkt, denn das unidentifizierte Flugzeug scheint sich auf sein Schiff zuzubewegen. Seit dem irakischen Angriff auf die „USS Stark“ im vergangenen Jahr, der 37 Matrosen und Soldaten das Leben kostete, reagieren die amerikanischen Schiffe im Golf mit paranoider Vorsicht auf Flugzeuge in der Region. Die „Vincennes“ ist bei den zivilen Flugkontrollbeamten im persischen Golf verschrien. Anfang Juni hätte ihre Besatzung fast eine fatale Flugzeugkollision provoziert, als sie einen in Dubai landenden Jumbo-Jet zur Kursänderung veranlassen wollte, weil er der „Vincennes“ zu nahe gekommen war.

„Wir hatten schon Probleme mit diesem Schiff“, sagt ein Flugkontrollbeamter in Dubai, der der US-Marine ungenügende Vorbereitung ihrer Mannschaften auf den Einsatz im Golf vorwirft. „Es ist haarsträubend, wie zivile Flugzeuge von ihm herumkommandiert werden, und es bringt Menschenleben in Gefahr“, meinte er über die „Vincennes“, die keine Maschine näher als zwanzig Meilen an sich herankommen läßt.

Die Besatzung konsultiert die ihr verfügbaren Flugpläne, übersieht jedoch offenbar den für zehn Uhr verzeichneten Iran Air-Flug. Niemand an Bord kommt auf die Idee, den Funkverkehr der zivilen Flugkontrolle abzuhören, der über den zivilen Charakter der sich weiter nähernden Maschine Aufschluß gegeben hätte. Zwei Minuten nach dem Start hat der Airbus fast 3.000 Meter Höhe erreicht und ändert seinen Kurs, so daß er nun mit 450 Knoten (etwa 800 Kilometer pro Stunde), also langsamer als eine F-14, direkt auf die „Vincennes“ zufliegt. Die Schiffsbesatzung versucht, das Flugzeug auf dem Kanal für zivile Notrufe zu kontaktieren. Als dies erfolglos bleibt, schaltet sie auf den militärischen Notruf-Kanal um. Das Ausbleiben einer Antwort muß nicht feindliche Absichten eines Flugzeugs bedeuten. Diese beiden Kanäle sind zwei von etwa fünfzehn, die von der Zivilluftfahrt in der südlichen Golfregion üblicherweise benutzt werden. Obendrein weigern sich angeblich viele iranische Flugbesatzungen, mit dem US-Militär im Golf zu kommunizieren.

Die Schiffsbesatzung hat Schwierigkeiten, die Identität des Flugzeugs auf dem Radarschirm festzustellen. Es ist angeblich schwierig, wenn auch nicht unmöglich, von der Form und Größe des Flecks, als der das Flugzeug auf dem Schirm erscheint, auf den Typ der Maschine zu schließen. Die „Vincennes“ ist mit einem angeblich konkurrenzlosen Radarsystem ausgerüstet, das fliegende Objekte im gesamten persischen Golf, also über hunderte von Kilometern hinweg, wahrnehmen und möglichst identifizieren kann. Es ist jedoch auf das offene Meer und nicht auf den engen Raum des persischen Golfs ausgelegt. Es schützt nicht vor einer falschen, unter extremem Zeitdruck gefällten Entscheidung.

Um solche Irrtümer auszuschließen, sind in alle Flugzeuge sogenannte Transponder eingebaut, die zusätzliche Informationen auf dem Bildschirm erscheinen lassen und die es als ziviles oder militärisches Flugzeug identifizieren. US-Generalstabschef Crowe sagte am Sonntag, der Airbus habe Signale ausgesendet, die ihn als F-14-Kampfbomber erscheinen ließen, wollte dies aus Geheimhaltungsgründen aber nicht näher erläutern.

Ein Pentagon-Sprecher sagte am Dienstag aber, der Transponder des Airbusses habe zwei Signale ausgesendet: das eine, in „Mode 2“, werde von zivilen und militärischen Flugzeugen ausgestrahlt, das zweite, in „Mode 3“, nur von Militärmaschinen. Das „Mode 3„-Signal besteht aus einer codierten, nur von den jeweils eigenen Streitkräften zu entschlüsselnden vierstelligen Nummer; wie die Fernsehgesellschaft ABC berichtete, habe die Nummer des Airbusses der einer Tage zuvor beobachteten F-14 entsprochen. Die ursprüngliche Geheimnistuerei des Pentagon sollte verhindern, daß der Iran von der amerikanischen Fähigkeit erfährt, seinen „Mode 3„-Code zu knacken.

Es ist nicht üblich, aber bereits vorgekommen, daß große Jets mit Transpondern in „Mode 3“ ausgerüstet wurden, so etwa von der britischen Armee im Falkland-Krieg, als Zivilmaschinen für den Truppentransport eingesetzt wurden. Ein iranischer Sprecher bestritt jedoch, daß in Iran-Air -Flugzeugen solche Transponder eingebaut seien.

Kapitän Rogers blieb nicht viel Zeit zur Entscheidung. Er ersuchte beim Kommandoschiff „USS Coronado“ um Erlaubnis, das mutmaßlich feindselige Absichten verfolgende Flugzeug abzuschießen, sobald es sich auf zwanzig Meilen genähert habe. Was seinen Verdacht noch verstärkte, war der vier bis fünf Meilen außerhalb des zivilen Luftkorridors verlaufende Kurs des Airbusses. Der Airbus befand sich allerdings westlich des Korridors, die „Vincennes“ östlich - angesichts des aggressiven Gehabes der US-Marine im Golf möglicherweise nichts anderes als eine Vorsichtsmaßnahme des Flugkapitäns. Um 10 Uhr 51, vier Minuten nach dem Start, wurde Flug 655 zum „feindlichen Flugzeug“ erklärt. Versuche, es von einem zweiten US-Schiff in der Region, der „USS Sides“, aus zu warnen, blieben weiterhin erfolglos. Obendrein begann die Maschine ihre Höhe von 9.000 Fuß auf 7.800 Fuß zu verringern, was für Kapitän Rogers ein weiterer Hinweis war, angegriffen zu werden.

Doch auch diesem Teil seiner Version wird von zwei Seiten widersprochen. Die Flugkontrolle in Dubai verwies am Montag auf den Funkverkehr, in dem Flug 655 unmittelbar vor dem Abschuß die Erlaubnis gegeben worden war, auf 14.000 Fuß zu steigen. Auch in dem Bericht der „Sides“ heißt es, der Airbus sei im Steigen gewesen, als er getroffen wurde. Als die Rakete ihn traf, habe er sich in mehr als 12.000 Fuß und nicht, wie von der „Vincennes“ angegeben, in knapp 8.000 Fuß Höhe befunden.

Um 10 Uhr 54, als Flug 655 noch neun Meilen von der „Vincennes„entfernt war - eine Entfernung, aus der eine F-14 die „Vincennes“ leicht mit einer Rakete hätte versenken können - läßt Kapitän Rogers zwei Standard-See-Luft-Raketen abfeuern, die den Airbus etwa eine Minute später treffen und zerstören. Die Besatzung der „Vincennes“, die das Flugzeug nicht gesehen hatte, sah eine Explosion, sechs Meilen entfernt, im dunstverhangenen Himmel über dem Golf.