Kohl als Europas Herzschrittmacher

■ Eine Woche nach seinem Abschied vom EG-Ratsvorsitz gefiel sich Kohl noch einmal als guter Mensch

Noch einmal flüchtete sich der Kanzler in einen Kurzurlaub nach Europa: Während in der heimischen Provinz schon Teile des eigenen Parteinachwuchses seinen Abgang fordern, sonnte sich Kohl am Mittwochmorgen noch einmal im Cockpit des europäischen Flugzeuges. Fast eine Woche nach der turnusgemäßen Übergabe des Steuerknüppels an die Regierung inAthen fand sich Kohl noch einmal zur Bilanz in der „schwangeren Wanze“ ein, wie der Plenarsaal im Straßburger Europa-Parlament oft genannt wird. Es prasselte nur so Komplimente.

Der Europa-Jet erhielt in den sechs Monaten Bonner Regie tatsächlich kräftige Harmonisierungsschübe: Die Konzerne können zufrieden sein. Zusätzlichen Beifall heimste Kohl mit der hinterhergeleierten Mahnung ein, daß der für 1992 angepeilte grenzenlose Binnenmarkt nicht zu einem „Klasseneuropa“ ausarten, daß dessen rasantes Tempo nicht zum Absturz sozialer Errungenschaften führen dürfe. Das Europa der Zukunft, „ich sag's mal beinahe pathetisch“, solle doch bitteschön ein „menschliches Antlitz“ zeigen. Kurz: Ein Europa „mit Herz“ wünschte sich der Kanzler. Starker Beifall. Wenig Jubelstimmung dagegen im Pressesaal: Das hatte man alles vor und nach Hannover schon gehört. EG -Kommissionschef Jacques Delors half aus der Patsche: Zumindest der „Embryo einer europäischen Regierung“ müsse bis spätestens Mitte der 90er Jahre gezeugt sein; „sonst geht es nicht weiter“. Zwar ist die Metapher schon alt (nachzulesen in der taz vom vergangenen Freitag), aber die Berichterstatter nahmen das fruchtbare Stichwort dankend an. Aber bitte ein „Embryo mit Herz“, mag der Kanzler tief im Innern gedacht haben.

Th. Scheuer