Vollgas - und schnell vergessen

■ Ein Jahr nach der Tanklaster-Katastrophe von Herborn regiert der rauhe Alltag auf der Straße

Mit rotglühenden Bremszylindern und 120 Sachen donnerte am 7. Juli 1987 ein fabrikneuer Mercedes-Sattelschlepper, geschoben von 36.000 Litern Kraftstoff, auf die Altstadt von Herborn zu. Nur auf dem linken Reifen schlitterte der Laster am Ende einer Gefällstrecke in eine Rechtskurve, streifte ein Sportartikel-Geschäft und raste in die Eisdiele „Rialto“. Was hat die Katastrophe von Herborn bewirkt und verändert? Die taz zieht - ein Jahr danach - Bilanz.

Verkehrsschilder an der Autobahnabfahrt nach Herborn verbieten Lkw über siebeneinhalb Tonnen die Durchfahrt. „Es sind zwar merklich weniger geworden, die hier vorbeibrettern. Aber längst nicht jeder hält sich an das Verbot“, sagt die Apothekerin an der Herborner Ortseinfahrt achselzuckend. Heute ist es ein Jahr her, daß der Tanklastzug in eine Eisdiele der nordhessischen Kleinstadt raste und explodierte. Sechs Menschen kamen ums Leben, 38 wurden verletzt und 40 obdachlos. „Hier krachte und knallte alles, Kanaldeckel flogen wie Geschosse durch die Luft, und an der Dill brannten sogar die Bäume, erinnert sich eine Augenzeugin.

Von den Folgen der Detonation ist nun nichts mehr zu sehen. Sieben der neun zerstörten Häuser sind durch Neubauten ersetzt. Einige sind noch im Rohbau, andere fast bezugsfertig. „Die obdachlosen Familien haben wir längst in anderen Stadtteilen untergebracht, sagt der Herborner Bürgermeister Bernd Sonnhoff. Das war, so meint er, das geringste Problem. „Viel schlimmer ist es mit den Dauerfolgen des Unglücks. Fünf der Toten waren junge Leute im Alter zwischen 18 und 21 Jahren. Da weiß man gar nicht, wie man ihren Eltern helfen soll. Und drei Personen haben heute körperliche Leiden, die irreparabel sind.“ Die Stadt Herborn hat ihren Entschädigungsobulus erbracht. Das war allerdings nicht viel, es beschränkte sich auf Beileidsbesuche und die Verteilung der 835.000 Mark Spenden, die die Stadt, der Lahn-Dillkreis, das Land Hessen, private und kommunale SpenderInnen sowie - den größten Teil- die EG zur Verfügung gestellt hatten.

Die Familien, deren Angehörige durch die Folgen der Explosion starben, warten bis heute noch auf Schmerzensgeld. Auch die drei auf Dauer Geschädigten haben außer Spenden keine finanzielle Entschädigung bekommen: eine Frau mit einem starken Wirbelsäulenschaden, ein Mann mit einem unheilbaren Fersenbruch und ein Mädchen, das wegen der damals ausgetretenen Benzindämpfe noch immer an einer schweren Hautallegie leidet. „Die Betroffenen haben Anwälte beauftragt, um in dem Verfahren gegen den Fahrer des Tanklastzugs ihre Ansprüche geltend zu machen. Der Oberstaatsanwaltschaft Limburg liegt auch schon ein Gutachten vor, das den Unfall auf überhöhte Geschwindigkeit, defekte Bremsen und Wartungsfehler zurückführt. Doch wann der Prozess beginnt, und wer im Falle eines Freispruchs Schmerzensgeld zahlt, ist unklar. „Ob Bund, Land oder sonst jemand einspringt, muß man noch sehen“, meint der Bürgermeister vage. Die Schäden der Explosion sind nur äußerlich beseitigt. „Den Schock, den wir hier erlitten haben, werden wir wohl noch lange nicht los. Die Erinnerung ist schrecklich lebendig“, erzählt eine ehemalige Anwohnerin des Unfallorts. Die direkt Betroffenen sprechen ungern über den siebten Juli 87. Giovanni Betteon, der Besitzer der Eisdiele, in den der Lastzug raste, und Pietro de Bastiani, der Eigentümer des darüber liegenden Restaurants sind da die Ausnahme. Betteon ist aufgebracht: „Ich habe bisher erst Geld für den Sachschaden und eine Vorauszahlung von 10.000 Mark für meinen Verdienstausfall in dem letzten Jahr bekommen.“ Er hat einen Anwalt beauftragt, um seine weiteren Ansprüche bei der Krawag Hamburg, der Haftpflichtversicherung des Transportunternehmens, durchzusetzen. Bastiani dagegen will auf juristische Schritte verzichten, obwohl er sich beklagt: „Die Krawag hat mir nur den Wert des Altbaus erstattet, der Neubau ist viel teurer“. „Aber ich werde nicht so dumm sein, als kleiner Privatmann gegen ein dickes Versicherungsunternehmen anzukämpfen. Die Stadtverwaltung sieht sich für die Einzelfälle nicht zuständig. Ihre Aufgabe sei, so der Bürgermeister, etwas gegen die Unfallgefahr zu tun. Neben dem - längst nicht immer beachteten - Durchfahrtverbot hat sie den Bau einer „Notbremsstrecke“ beantragt. Ein Lkw -Fahrer, der auf der abschüssigen Straße vor dem Ortseingang merkt, daß seine Bremsen nicht mehr ziehen, soll dann auf einer Schotterstrecke in die Wiesen hereinfahren könen. Noch in diesem Jahr wird das Straßenamt Dillenburg mit dem Bau beginnen. Der Bund stellt die notwendigen 300.000 Mark für das 'Pilotprojekt‘ zur Verfügung. Sonnhoff: „Sowas ist ziemlich sicher, da gibt es bereits Erfahrungen in der Schweiz. Ansonsten sollte aber auch die Bremstechnik von Lkw verbessert werden.“

Anne Weber