Illegale Schnüffelei per Erlaß

In Westberlin hat der Finanzsenator dazu aufgefordert, gesetzwidrig das Steuergeheimnis für rund 6.000 Volkszählungsgegner aufzuheben  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Was beim Flick-Skandal und in zahlreichen Parteispendenverfahren nicht gelang - bei der Volkszählung ist's möglich: Mit einem einfachen Erlaß hat der Berliner Finanzsenator das Steuergeheimnis für rund 6.000 Volkszählungsboykotteure aufgehoben. Zur Eintreibung von Zwangsgeldern sollen die Vollstreckungsbeamten der Oberfinanzdirektion Einblick in die sonst strikt verschlossenen Steuerakten nehmen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse für die „Beitreibung“ der Zwangsgeldforderung heranziehen. Mit den Steuerakten können die staatlichen Zwangsgeldeintreiber dann nicht nur die Vermögensverhältnisse der Boykotteure durchleuchten, sondern auch ihre Bankverbindungen und Arbeitgeber ermitteln, um die Zwangsgelder vom Gehalts- oder Sparkonto wegzupfänden. Die Offenbarung des Steuergeheimnisses, so der Finanzsenator in einem Rundschreiben, das der taz zugespielt wurde, sei „aus zwingendem öffentlichem Interesse“ geboten, da andernfalls die Gefahr bestünde, „daß schwere Nachteile für das allgemeine Wohl eintreten“.

Was in dem Senatserlaß aus „öffentlichem Interesse“ „umgehend“ getan werden soll, ist jedoch nach dem Gesetz verboten. Steuerakten dürfen nur für Ermittlungen in Steuersachen verwendet werden - und das ist die Volkszählung nun wahrlich nicht. Auch beim Eintreiben von Unterhaltszahlungen, so berichtet ein Finanzbeamter, „dürfen wir an die Akten nicht ran“. Nur in besonders definierten Ausnahmefällen darf das Steuergeheimnis gelüftet werden. Solche Ausnahmen, so sieht es der §30 Abs.4 Nr.5 der Abgabenordnung vor, sind jedoch nur dann gegeben, wenn „Verbrechen und vorsätzliche schwere Vergehen gegen Leib und Leben oder gegen den Staat und seine Einrichtungen verfolgt werden sollen“ oder aber Fortsetzung auf Seite 2

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„Wirtschaftsstraftaten verfolgt werden, (...) die geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören.“

Mindestens eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe geahndet würde, müßte mit im Spiel sein, um das Steuergeheimnis zu lüften, meinen die Steuerrechtskommentatoren. Als mögliche Beispiele führen die Steuerrechtler so schwere Geschütze auf wie „Vorbereitung eines Angriffskrieges“, Völkermord oder Landesverrat.

Welch hohes „Rechtsgut“ das Steuergeheimnis in dem freien Unternehmerstaat Bundesrepublik ist, hatten auch die Parlamentarier des Flick-Untersuchungsausschusses zu spüren gekriegt. Monatelang wurde ihnen unter Berufung auf das Steuergeheimnis die Akteneinsicht in die Schiebereien des Flickkonzerns verwehrt, bis erst per Gerichtsbeschluß eine Teileinsicht in die Steuerunterlagen gestattet wurde.

Im jetzt vorliegenden Senatsbeschluß jedoch wird das Problem ganz einfach gelöst: Unter Berufung auf die Steuerrechtskommentatoren Tipke/Kruse erklärt der Beschluß im Falle der Volkszählung ein „zwingendes öffentliches Interesse“ schlicht für geboten. Allerdings erzählt der Senator seinen Bediensteten nicht, wie Tipke/Kruse dieses „öffentliche Interesse“ definieren. Da ist von „schwerer Kriminalität“ und „Vergehen gegen hochwertige Rechtsgüter“ die Rede, die eine Offenbarung des Steuergeheimnisses rechtfertigen.

Beim Statistischen Landesamt, das in den Hochzeiten der Volkszählung noch versichert hatte, „Ihr Einkommen geht uns gar nichts an“, wollte man gestern von einem derartigen Erlaß nichts wissen. Der Berliner Datenschutzbeauftragte hat den Finanzsenator nach Bekanntwerden des Erlasses schriftlich zu einer Stellungnahme aufgefordert. Ein „zwingendes öffentliches Interesse“ für die Schnüffelei in den Steuerakten vermag man beim Datenschutzbeauftragten nicht zu sehen. Im Januar hatte der Finanzsenat dem Datenschützer versichert, daß die Steuerunterlagen der Vobos unangetastet bleiben.