Stereotype Entlastung der Täter

Eine detaillierte Studie der Nürnberger Notruf-Frauen zeigt: Noch immer bestimmen Klischees und Vorurteile Vergewaltigungsprozesse / Frauen wird eine „Mitschuld“ nachgewiesen, Männer werden entlastet / Schuld ist der Alkohol, die schwere Jugend, die Labilität  ■  Aus Nürnberg Wolfgang Gast

„Bei einem Geständnis des Täters war klar, daß er eine Vergewaltigung, eine sexuelle Nötigung etc. begangen hatte. Die Glaubwürdigkeit der Zeugin stand deshalb außer Frage. Es war auch klar, daß die Zeugin Opfer eines Verbrechens war und die Tatfolgen zu tragen hatte. Dies alles war auch der Verteidigung bekannt, dennoch suchte sie strafmildernde Gründe in der Person und im Verhalten des Opfers, und diese Äußerungen sind bei einer Vergewaltigung immer diffamierend. Solche Äußerungen hatten wir erwartet in Prozessen, in denen der Angeklagte die Tat bestreitet. Daß dies aber auch bei einem Geständnis des Täters der Fall war, hat uns überrascht.“

Ein Jahr lang verfolgten und protokollierten drei Mitarbeiterinnen des Nürnberger „Notrufs für vergewaltigte Frauen und Mädchen“ am Nürnberger Amts- und Landgericht all die Prozesse, in denen den Angeklagten Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, sexueller Mißbrauch sowie Beischlaf zwischen Verwandten vorgeworfen wurde. Die Autorinnen haben in ihrer Studie bewußt nicht nur die Verfahren aufgelistet, die streng nach dem Gesetzestext des Paragraphen 177 als Vergewaltigung verfolgt werden. Denn: „Eine juristische Unterscheidung zwischen Vergewaltigung und sexueller Nötigung ist vom Gesichtspunkt des sexuellen Selbstbestimmungsrechts her unsinnig.“ Am Ende der Untersuchung, nach über eineinhalb Jahren der Auswertung, steht eine 600 Seiten starke Studie, die detailliert statistische Daten auflistet und die die Argumentationslinien der Staatsanwälte, der Richter und insbesondere die der Verteidiger nachzeichnet. Männerjustiz

Vergewaltigungsprozesse sind Männerprozesse. In den 46 verschiedenen Verfahren, die die Autorinnen zwischen März 1985 und Februar 1986 dokumentierten, war der vorsitzende Richter immer ein Mann. Unter den beisitzenden RichterInnen

-soweit die befaßten Kammern darüber verfügten - stellten Männer 90 Prozent. Die Staatsanwaltschaft wurde ebenso in neun von zehn Fällen von Männern vertreten wie auch Vergewaltiger überwiegend von Männern (86 Prozent) verteidigt wurden. Das Bild einer Männerjustiz wird vervollständigt durch die Gutachter: zu 92 Prozent auch Männer. Ausnahmen in der Männerriege, die über Verbrechen an Frauen urteilt, sind die Vetreterinnen der Nebenklage. In etwa einem Drittel der Verfahren nahmen die betroffenen Frauen die Möglichkeit wahr, sich von einer Rechtsanwältin oder einem Anwalt vertreten zu lassen. Hier hält sich der Anteil männlicher und weiblicher Anwälte in etwa die Waage.

„Eigentlich wollten wir rauskriegen, was ein normaler Vergewaltigungsprozeß ist“, erzählt Brigitte Schliermann, die als Diplom-Sozialwirtin die Studie miterarbeitet hat. Zu Beginn der Untersuchung stand die Frage, „ob es eine Struktur gibt, nach der eine Vergewaltigung vor Gericht beurteilt wird“. Und diese, so das Ergebnis, ist durchaus vorhanden.

Unabhängig von den Täter-Konstellationen „gibt es keinen einzigen Prozeß, in dem es nicht zu irgendwelchen Frauenfeindlichkeiten gekommen ist“. Unabhängig vom Tatvorwurf, einem Geständnis, einem Freispruch oder einer Verurteilung. Die Situation der Frau wird vor Gericht durch eine Unzahl von Vorurteilen bestimmt, allen voran immer noch von der Vorstellung, die vergewaltigte Frau trage in irgendeiner Form eine Mitschuld an dem an ihr begangenen Verbrechen. Dementsprechend argumentiert der Verteidiger des Angeklagten im Regelfall mit dem Lebenswandel der Zeugin, mit ihrem Ruf und mit Hinweisen auf ihre früheren sexuellen Erfahrungen. Als Gründe für eine Vergewaltigung - soweit vor Gericht überhaupt eingeräumt - wurde von Verteidigern zumeist eine Alkoholisierung während der Tat (elfmal), eine schwere Kindheit und Jugend (siebenmal), psychische Probleme (zehnmal) und sexuelle Schwierigkeiten des Angeklagten aufgeführt. Die genannten Gründe wurden dabei nicht nur zur Schuld- und Strafminderung herangezogen, sie wurden auch als Ursache der Vergewaltigung genannt.

Standardmäßig wird der Studie zufolge bei Gericht behauptet, daß der Angeklagte infolge der Alkoholisierung, seiner psychischen Labilität oder seiner persönlichen Krisensituation die Kontrolle über sich verloren habe. Somit wird die Willenlosigkeit des Täters und nicht etwa der Wille des Täters zum Ausgangspunkt einer Vergewaltigung. Angeknüpft wird an eine diffuse Triebtheorie, nach der der Mann eine regelmäßige sexuelle Betätigung braucht, und wenn diese nicht sichergestellt ist, wie etwa in einer „festen Beziehung“, dann könne er ein Vergewaltiger werden. Die Tat selbst wird in den Argumentationen der Verteidiger - und oft auch bei den Staatsanwälten - zu einer spontanen Handlung. Regelmäßig wird auch die „sexuelle Unerfahrenheit des Angeklagten“ aufgeführt.

Die Tat wird somit schnell zu einem „Versehen“, das dem Wesen des Angeklagten eigentlich fremd ist. Konsequenterweise werten die Verteidiger dann auch zu 75 Prozent die jeweilige Tat als „geringfügig“. Diese Verharmlosung geht mit der Negierung der Tatfolgen für die Frau einher. Eine Anwältin verstieg sich in ihrem Plädoyer sogar zu der Behauptung: „Sie (die vergewaltigte Frau) hat ihren damaligen Freund geheiratet. Durch das Geständnis des Angeklagten sind ihr peinliche Fragen erspart geblieben. Aber eine junge Frau vergißt sowas schnell in ihrem jungen Eheglück.“

Steht bei einem Geständnis des Angeklagten die Frage nach strafmildernden Umständen im Vordergrund, so rückt bei einem Bestreiten der Tat - etwa die Hälfte der Angeklagten bestritt eine Vergewaltigung - die Persönlichkeit der Zeugin in den Mittelpunkt der Verteidigungsstrategie. Nicht nur, daß sich die betroffenen Frauen meistens Leichtfertigkeit und Naivität vorwerfen lassen müssen, gesucht wird nach einem Motiv der Zeugin, weshalb sie eine Falschanzeige erstattet haben könnte. 15 von 27 VeteidigerInnen führten an, die Zeugin habe Haß- und Rachegefühle gegenüber dem Angeklagten, sie bräuchte eine Rechtfertigung gegenüber ihrem Freund oder Ehemann, jemand anderes habe sie zur Anzeige veranlaßt oder sogar, daß sie unbewußt eine falsche Aussage gemacht habe, „weil sie aus irgendwelchen Gründen hinterher einen freiwilligen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung betrachtet“. „Mitschuld“ des Opfers

Diese Äußerungen zielten - so die Autorinnen - eindeutig in Richtung einer Mitschuld des Opfers. So wurde beispielsweise in zwei Fällen, in denen die Frauen in ihren eigenen Wohnung vergewaltigt wurden, von den Anwälten dahingehend argumentiert, daß es ihr Fehler gewesen sei, den Mann (in einem Fall ein alter Bekannter) in ihre Wohnung hereingelassen zu haben. Die Studie kommt zu dem Schluß, daß „von den Frauen hier entweder hellseherische Fähigkeiten verlangt werden - sie muß vorher wissen, welcher Bekannte sie vergewaltigen wird - oder sie soll grundsätzlich keine Bekannten mehr in ihre Wohnung einlassen“. Die Tatsache, daß eine solche Argumentation überhaupt vor Gericht möglich ist, belege wiederum das Vorurteil, nachdem eine Vergewaltigung ohne das Zutun der Frau nicht möglich wäre.

Schließlich wird auch noch der Lebenswandel der Zeugin zum Gegenstand des Prozesses gemacht, wenn der Beschuldigte die Tat leugnet. Von den 27 Fällen, in denen die Angeklagten die Tat bestritten, wurden 21 Mal die sexuellen Beziehungen der Zeugin, deren möglicher Alkohol- oder Drogenmißbrauch und psychische Probleme erörtert. In den Ausführungen der Verteidigung wurde behauptet, die Zeugin sei debil, schüchtern, naiv oder durchsetzungsunfähig, sie sei entmündigt, und einmal sogar, sie sei Epileptikerin. Das ist - so die Autorin Schliermann - auch der Punkt, „wo im Gerichtssaal eine regelrechte Stammtischatmosphäre aufkommt“. Trotz der diffamierenden Fragen und Kommentare griffen die RichterInnen nicht ein. Und selbst die Sprache im Gerichtssaal wird zum Mittel, das Verbrechen zu verharmlosen, die vergewaltigte Frau zu diffamieren und ihre Aussage zu entwerten. Aus einer Prostituierten wird eine Frau, „die auf den Strich geht“, eine Alkoholikerin „trinkt“ nicht, wie der zur Tatzeit alkoholisierte Angeklagte, sie „säuft“. Dazu gehört auch, daß bei einem Leugnen der Tat die Vernehmungsdauer für die Zeugin auf durchschnittlich eine Dreiviertelstunde ansteigt, die längste Aussage im dokumentierten Zeitraum betrug drei Stunden. Im Gegensatz dazu beläuft sich die durchschnittliche Vernehmung bei einem Geständnis auf etwa 20 Minuten. Und bei einem Leugnen der Vergewaltigung müssen die betroffenen Frauen kategorisch in den Zeugenstand. Eine Tortur, die bei einem Geständnis 15 von 28 Frauen erspart blieb. Tatorte

Die Vorstellung, daß Vergewaltigungen größtenteils von Fremden und noch dazu überfallartig ausgeführt werden, wird von der Nürnberger Studie widerlegt. Der häufigste Tatort ist die Wohnung des Angeklagten, gefolgt vom Tatort „im Freien“ und dem Fahrzeug des Beschuldigten. Nur in 15 Fällen war das Opfer „fremd“ (30 Prozent), in der Mehrzahl kannten sich der Tatverdächtige und das Opfer (62 Prozent), zum Teil waren sie verwandt (acht Prozent).

Verurteilt wurde in Nürnberg ziemlich hart. 80 Prozent der Angeklagten wurden mit teilweise hohen Haftstrafen belegt. Beträgt der Anteil der Haftstrafen über fünf Jahren im Bundesdurchschnitt 9,7 Prozent, erreichte er bei den Nürnberger Gerichten 24 Prozent. Entsprechend gibt es auch eine erhebliche Differenz bei den Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden: in Nürnberg zwölf Prozent und im Bundesdurchschnitt 27,2 Prozent. Eine andere Tendenz scheint dagegen bundeseinheitlich. Einer überdurchschnittlichen Verurteilungsquote beim Tatort „im Freien“ und „Wohnung des Opfers“ steht eine unterdurchschnittliche beim Tatort „Auto des Angeklagten“ und „Wohnung des Angeklagten“ entgegen. Die Tendenz der Gerichte, bei einem zunehmenden Bekanntheitsgrad zwischen Opfer und Täter von einer Verurteilung abzusehen, belegt ein Verweis auf eine Studie aus dem Saarland. Demnach werden bei identifizierten Fremden 16 Prozent, bei Bekannten fast 42 Prozent und bei Verwandten über 57 Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt.

„Das geht psychisch an die Grenze dessen, was auszuhalten ist, wenn du nie einen Prozeß erlebst, bei dem du das Gefühl hast, daß er in Ordnung geht“, resümieren die Autorinnen Manuela Dörsch, Margit Endres und Brigitte Schliermann nach Abschluß ihrer insgesamt dreijährigen Arbeit. Bis die Studie im Buchhandel zu erwerben ist, kann aber noch einige Zeit vergehen. Erst einmal muß für sie ein Verlag gefunden werden.