Der Rotzjunge von W.

Wie einer den Heiligen Rasen besudelte  ■  PRESS-SCHLAG

Was haben wir gezittert! Doch am bitteren Ende hatte es nichts genutzt. Da waren Mythen kollabiert, Legenden eingestürzt, Serien zerfetzt, und das hieß: Boris Becker (Monaco) mußte gegen Stefan Edberg (Schweden) verlieren.

Die beiden alles entscheidenden Szenen in Wimbledon hatten am Freitag vor einer Woche, abends gegen 21:45 Uhr, stattgefunden. Es schlugen sich B. und Lendl beim Stande von 6:6 und 30:15 im dritten Satz, Aufschlag B. Da zieht dieser in Großaufnahme vor den Kameras der Weltöffentlichkeit den angesammelten Schleim seines Rachenraumes hoch und rotzt ihn rücksichtslos auf seine Hochheiligkeit, den Rasen von W. Statt Aufschlag erstmal Auswurf - das war der Ungeheuerlichkeit erster Akt. Zwei Bälle weiter, bei 40:30, schlägt dieser B. gar ein heilig Rasennabenstückchen rückhand-volley Richtung Liniengericht. Würdelos sowas, entweihend, bar jeden Schamgefühls - diese Schändung mußte bestraft werden.

Erinnern wir uns weiter: B. verbrauchte in zwei Tagen neun Matchbälle. Das war jedesmal eine Bewährungschance in Not, aber er vergab sie alle: B. erbricht sich in Urschreien nach einem Breaktherapeuten, schlägt gar das Hl.Netz, rammt sein Unhl.Haupt gegen die Hl.Plastikplane, fühlt sich ermuntert, als ein germanischer Schreihals dazwischenpöbelt: „Sack zumachen“, und versucht's gar per Gebet mit dem Racket zwischen den gefalteten Händen. Angewidert durch dieses Zappeln, Zaudern und zermürbte Zweifeln, gestatteten ihm die Götter und Göttinnen des Tennistempels von W. noch den Sieg, bevor sie ihn dann im Finale um so bitterer in den Orkus der Niederlage trieben. B. aber versuchte, sich mit den weltlichen Mythen der Statistik zu stärken. Er war doch weiter unbesiegt auf dem Centre Court! Er war doch unbesiegt bei Regenabbruch-Matches! Noch nie hatte er in W. ein Finale verloren! Er war doch noch ohne Satzverlust, der kein Tie -Break war! Er hatte doch noch nie in Satzrückstand gelegen! Jetzt war er sogar nach Dunkelheitsabbruch-Matches ohne Satz -, ja gar ohne Aufschlagsverlust!

Doch der Glaube des Ungläubigen ist nichts wert. Schändling B. unterlag. Dabei entschied die Hl.Netzkante von W. Schon gegen Lendl hatte sie einen sicheren Matchball gezielt ins Aus abgefälscht, und gegen Edberg warf sie sich schließlich im entscheidenden Moment in den Weg, als B. mit seinem letzten Schuß von W.'88 voll auf des Schweden eleganten Körper gezielt hatte.

Aber die Hoffnung seiner Fans bleibt bestehen. B. bleibt bei allen wegen Dunkelheit ohne Regen abgebrochenen Halbfinalspielen auf Wimbledons Centre Court ohne Satzverlust auch angeschlagen ungeschlagen, und er hat weiterhin noch nie ein Sonntagsfinale verloren. Darauf läßt sich aufbauen, wenn Gras über die Sache mit dem Hl.Rasen gewachsen ist. B. hat ja noch viel vor, wie er kürzlich dem 'Spiegel‘ vorhielt: „Ich will ein guter Tennisspieler werden.“

Bernd Müllender