„Als Gott die Professoren schuf...

■ schuf der Teufel die Kollegen“, sagt Kuczynski, und die so fein gebildete Menschen bewunderne KulturredakteurIn ergänzt:„Die reformierte Oberstufe“ und lauscht dann barv seinem Vortrag

Ach ja. Ich liebe diese großen, alten Professoren. Die mit dem Gesicht, in das sich ein gut durchdachtes, großherzig und restlos gebildetes Leben so wunderbar eingegraben hat, daß es Dich gleich umhaut. Sie haben Freunde wie Anna Seghers und Egon Erwin Kisch, die haben sie in den 3Oer Jahren immer in Paris getroffen, sie haben in der „Weltbühne“ Essays geschrieben, und sie verstehen es, schön unterhaltsame wissenschaftliche Vorträge zu halten, die man deshalb hinterher als „brillant“ bezeichnet, weil man immer noch was lernt zwischen all den lustigen Anekdoten und den Unmengen wichtiger Namen, die zitiert und getroffen werden und von denen man nie weiß, wie man die schreibt, aber immer ahnt, daß sie bestimmt wichtig sind.

Jürgen Kuczynski, Wirtschaftshistoriker der Humboldt Universität in Berlin (Ost), ist so einer. Unter weißem Haar bestreitet er altmodisch charmant und etwas schwerhörig („Meine Senilität hat an den Ohren begonnen“) den Eröffnungsvortrag des Soziologen-Colloquiums „Lebenserfahrung - Zur Organisation biographischen Wissens“ an der Bremer Uni.

Die wissenschaftliche Methode der „oral history“ (Ausnutzen von Autobiographien und Biographien zur Rekonstruktion von Zeitgeschichte) ist, was gar nichts ausmacht, nicht mehr ganz so originell. Bürgerliche Wisssenschaftskreise nutzen sie seit den 5Oer Jahren. Und bei den Marxisten glasnostet es jetzt offensichtlich auch ganz heftig in Richtung Individualität-Zugeben und für kollektive Erkenntnisse nutzen. Für die erste Veröffentlichung einer deutschdemokratischen oral history hat Kuczynski noch ordentlich Prügel bekommen - „Heute gilt der Band auch bei uns als etwas sehr Gutes.“

Die beiden großen Probleme der Den-Leuten-auf-den-Mund-und -in-die-Bücher-schauen-Methode faßt der Herr Professor mit schön gewählten Worten zusammen. „Ehrlichkeit und Wahr

heit“, sagt er,„sind in keiner Weise identisch, auch die Unwahrheit kann ehrlich und überzeugt vorgetragen werden.“ Dazu erzählt er zwei wunderschöne Anekdoten von Silberhochzeiten und Buchbesprechungen und macht uns trotz Semesterferien reichlich vorhandenen Zuschauern klar, daß auch Lügen, Verfälschungen und Verdrehungen ein Bild einer gesellschaftlichen Situation festhalten, ihrer Tabus, Kulte, Vorurteile und Vereinfachungen. In der „Kunst der Erinnerung“, der unbewußten Erzähl-und Formhaltung der Autobiographie, findet sich dann, bei kritischer Distanz zum Erinnerten, eine philosophische Wahrheit hinter der einfachen ge

schichtlichen.

Der zweite Haken der oral-history-Methode:„Die meisten Autobiographen schreiben so, als wollten sie ihrer Autobiographie den Titel geben Ein ungewöhnliches Leben oder Das Leben eines ungewöhnlichen Menschen. Der Alltag, der zumeist größte Teil des Lebens, interessiert weder Autobiographen noch Biographen. Wieviel mehr wüßten wir, gäbe es mehr Autobiographien mit Titel Ein ganz gewöhnliches Leben oder Das Leben eines ganz gewöhnlichen Menschen.“

Bei der abschließenden Diskussion versteht dieser wunderbar gebildete alte Mann immer mal wieder Bonmots einzuflechten wie:„Die Welt, diese Zeitung,

die ich so liebe, weil sie so schön reaktionär und bequem ist - man muß nie zwischen den Zeilen lesen -, nannte mich neulich einen orthodoxen Dissidenten. Dabei bin ich immer absolut ehrlich ein naiver, treuer Kommunist gewesen.“ Oder:„Bei Goethe gibt es gar keine Mahlzeiten. Der Mensch hat offensichtlich überhaupt nicht gegessen.“ Und schließlich: „Bei uns ist die Frau ja völlig gleichberechtigt - in allen unteren Funktionen.“ Ja, das ist schön, so was.

Den natürlich auch anwesenden Feministinnen, die die oral history als sehr männliche Arbeitsmethode verkritteln, stimmt er begeistert zu. Sei aber nicht seine Schuld. Es gäbe einfach so sehr wenig Frauen-Autobiographien.

Dem von irgendwo auftauchenden Original-7Oer-Jahre-Student mit Hirtentasche, Schmuddel-Look und Anliegen bescheinigt er, die Vision von „Millionen geschriebener Bio

graphien von untergebutterten Grüppchen, die in die elitäre Öffentlichkeit der Universität nicht hineinkommen“ sei schlichtweg „absoluter Unsinn“. In seiner Republik jedenfalls suche man sehr sorgfältig danach. Zuvor hatte er sich mit dem jungen Mann, der gekommen war, weil ihn Kuczynskis Journal-Interview („dummer Mist“) so maßlos geärgert hatte, und sehr viele „Man sollte...“ auf Lager hatte, noch ganz prächtig verstanden.

Ja, ich liebe solche Professoren. Sie sind nicht mehr wissenschaftlich revolutionär, aber sie sterben aus. „Als Gott den Professor geschaffen hatte“, sagt Kuczynski,„schuf der Teufel die Kollegen.“ Nein, ich glaube er hat irgendwas gemacht, daß es diese Tucholsky-haften Bildungsbürger nicht mehr so gibt. Ich glaube, mein Schulsystem hat irgendwas damit zu tun. Wer das hinter sich hat, wird angesichts der Kuczynskis ganz kleinlaut.

Petra Höfer