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■ Das Jugendamt Kassel beantragt Indizierung von Reiser-Comics bei der Bundesprüfstelle

„Skandal! Die Reichen vergeuden Frischgemüse!“ Aber der vornehme Herr mit der lustspendenden Wurzel im Hintern sieht das anders: „Alles Lüge! Hinterher esse ich sie auf.“ Sodomie, Inzest, die Nummer mit dem abgehackten Arm. Jean -Marc Reiser zeichnete das Leben, wie es ist, das meint sogar Alice Schwarzer. Was in Frankreich, Reisers Heimat, in der Schweiz und Österreich hochgeschätzt wird, ist in der Bundesrepublik Deutschland ein Fall für die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPS). Am Donnerstag konnte man sich allerdings nicht entscheiden, ob indiziert werden soll oder nicht. Das Gremium vertagte sich auf den 1. Dezember, um in der Zwischenzeit ein psychologisches Gutachten erstellen zu lassen, das die Wirkung von Reisers Comics auf Halbwüchsige erforschen soll. Der Semmel Verlag in Kiel, der Reiser auf deutsch herausgibt, wertet die Entscheidung der BPS als vorsichtige Zurückhaltung, weil die Beschlagnahme der Bücher und der Indizierungsantrag „schon zu hohe Wellen geschlagen hat“.

Eigentlich machen Comics der Bundesprüfstelle, die jugendgefährdende Tendenzen von Medien aller Art in pluralistischen Gremiumssitzungen feststellen will, wenig Arbeit; das meiste auf der Indexliste kommt vom Videomarkt.

Aber wenn solche „Machwerke härtesten Kalibers“ (Indizierungsantrag vom Jugendamt Kassel) im Laden neben Comics für Acht- bis Zwölfjährige stehen, gibt es für die Kunst keine Gnade. Dabei wird übersehen, daß der Standard von Mickey Mouse und Garfield nicht allgemeingültig ist. Auch hierzulande werden immer mehr Comics für Erwachsene verkauft, obwohl Semmel Verlagschef Winfried Bartnick für die BRD den Zustand eines „Entwicklungslandes“ konstatiert. „Was Comics betrifft, sind wir Togo oder so.“ Die Beschlagnahme von Reiser-Büchern in mehreren Städten hat schon viel Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen. Der „Spiegel“ druckte den „GV mit Wildschwein“, und die „Zeit“ empfahl ironisch allen Fans, sofort die beiden letzten erschienen Bände zu besorgen. Für den Semmel Verlag kommt der Rummel weder überraschend noch ungelegen. Verträge mit dem französischen Verleger und die eigene Überzeugung binden Semmel an die genaue Übersetzung; Selbstzensur im Vorfeld findet nicht statt. Aber es gibt noch mindestens neun Reiser -Comics, die ins Deutsche zu übersetzen sind.

Sabine Wahrmann