Die Finnen kommen

■ Ein Bericht zum 3.Midnight Sun Film Festival in Sodankylä, Finnland

Mitte Juni, die Zeit der Mitternachtssonne. 130 km nördlich vom Polarkreis: Sodankylä, ein kleiner Ort mit Wildwest -Atmosphäre; das einzige Kino im finnischen Lappland, die Turnhalle einer alten Schule, ein Zirkuszelt, 20.000 Zuschauer und ein Tag, der nie endet und nie beginnt. Midnight Sun Film Festival, das einzige internationale Filmfestival Finnlands. Vier Tage ununterbrochen Programm und dunkel wird es nur in den Vorführsälen.

Eine Marathonparty für alle skandinavischen Filmfreaks mit internationaler Präsenz, die sich mit „zentralen“ Festivals durchaus vergleichen läßt: Dusan Makavejev (Jugoslavien), Aleksei German (UdSSR), Kryzysztof Zanussi (Polen), Paul Schrader (USA) und - Publikumsliebling Monte Hellman (USA) stellten in Werkschauen ihre Filme vor und diskutierten mit dem im übrigen sehr aufgeschlossenen Publikum.

Die Filmemacher der„Villealfa Filmproduction“ - Aki Kaurismäki, Mika Kaurismäki, Pauli Pentti u.a. organisieren dieses Festival; man spürt ihre Leidenschaft zum Film, die Liebe zum Kino. Villealfa, das kommt von Alfaville, das ist der Bezug zu Godard, zur Nouvelle Vague und dem Cinema Noir. 1980 fing alles an bei villealfa mit „Der Lügner„ (Mika Kaurismäki). Der Hauptdarsteller sieht im Kino „Bande a part„ und stellt die Szenen am Ostseestrand nach; das Neue Finnische Kino war geboren. Der Cinemascope-s/w-Anti-Film „Calamari-Union„ (Aki Kaurismäki) - siebzehn „Humphrey Bogart-Männer“ namens Frank suchen in einem fiktiven Helsinki den Weg zur Küste, ohne zu wissen warum - wurde der erste Kultfilm Finnlands. 1987 wurden zum Beispiel die Shakespearschen Helden „aktualisiert“: „Macbeth„ von Pauli Pentti und „Hamlet macht Geschäfte„ von Aki Kaurismäki. Die Outlaws von damals - da liegt die Zukunft: Filme gegen die Normalität, Kino für Ausgestiegene, Ausgestoßene.

Innerhalb der Programmsparte „New Finnish Film“ sind zwei Filme hervorzuheben, die hoffentlich ihren Weg in die deutschen Kinos finden:

Ville Mäkela erzählt in seinem ersten Spielfilm „Beyond the Law„ (Finnland, 1987) die Geschichte eines Lehrers, der Selbstjustiz üben will, nachdem er die Demütigungen seiner vergewaltigten Frau durch die Institutionen (Arzt, Polizei, Gericht) miterlebt hat. Der Vergewaltiger wird aufgrund falscher Zeugenaussagen freigesprochen. Die vergewaltigte Frau ist seelisch zerstört, der Ehemann will Rache. Der Film arbeitet gegen die Law and Order Ideologie und ist ein sensibler, ehrlicher Versuch, den Filmmythos der Rache zu zerstören und in der rechtsstaatlichen Behandlung von Vergewaltigung patriarchalische Strukturen aufzuzeigen. Mäkela schafft es, im dokumentarischen Stil die Vergewaltigung aus der Sicht des Opfers zu inszenieren, ohne exhibitionistisch zu werden. Höhepunkt des Festivals war die Welturaufführung von Marjaana Mykkänens „From Russia with Rock„. Ein fast zweistündiger Dokumentarfilm über die sowjetische Rockszene: Musikausschnitte vom größten sowjetischen Rockfest „Rock-Panorama“ im Winter 1987 in Moskau und Interviews mit den Musikern. Die Kamera bleibt immer nur beobachtend, der Filmschnitt nähert sich niemals der Musik-Videoclip-Ebene. Gerade deshalb vergißt man das Medium Film, steigt ein in den harten Heavy Metal Sound, spürt den aggressiven Freiheitsdrang der Musiker. Die faszinierendsten Momente sind die Anfangs- und Schlußsequenzen: Kamerafahrten durch das nächtliche Moskau und die Musik aus dem Off; die roten Fahnen des Kreml zu härtestem Hardrock Sound. Von „Nautilius Pompilius„. Diese sibirische Gruppe kam aus dem dunklen Osten und wurde während ihres Aufenthalts in Moskau die populärste Band dennoch war ihre bürokratisch bestimmte Rückkehr durch die Aufenthaltsbeschränkung in Moskau unwiderruflich. Auf dem letzten Konzert in Moskau, der letzte Song: „Goodbye America“ - Moskau ist die Sehnsucht. Moskau ist Amerika. „Where all this will lead to, I have no idea, and frankly, I don't want to think about it“ (Slava Batusov, Nautilius Pompilius).

Ein sowjetischer Musiker aus Mykkänens Film war auf dem Festival anwesend. Dennoch ist die Nähe Finnlands zur Sowjetunion wohl mehr eine geographische. Den Krieg haben die Finnen nicht vergessen. Das Midnight Sun Film Festival als Beitrag zu Glasnost?

Existenzialistisches aus Lappland bietet der norwegische Film „Pfadfinder„ von Nils Gaup, der erste Film in samischer Sprache (deutscher Kinostart: August '88). Regisseur Nils Gaup, selber Same, hat in seinem ersten Film an Originalschauplätzen in der Schneegebirgswüste Nordnorwegens eine Legende des samischen Volkes aus dem 13. Jahrhundert mit samischen Laiendarstellern verfilmt. Das mag nach folkloristischer Exotik klingen, ist aber knallharte, bluttriefende Action. Die Geschichte eines kleinen Jungen, der seinen Stamm retten will vor der imperialistischen Lust eines anderen Volkes, ist ein authentisches, unsentimentales, existenzialistisches Drama ohne Pathos. Der Tod als Bestandteil des Lebens.

Das Festival in Sodankylä ist noch ein kleines Festival, auf dem Entdeckungen gemacht werden können. Die zunehmende Internationalisierung steigert zwar die Bedeutung dieses abgelegenen Festspielortes - europäische Filmauf- und -verkäufer waren zahlreich vertreten - birgt jedoch auch die Gefahr der Anonymisierung. Noch ist es ein Fest, auf dem hauptsächlich über Filme geredet wird. Doch wie auch immer, der neue finnische Film versucht, aktuelle Fragen stilistisch neu und lustvoll anzugehen und könnte somit neue Maßstäbe setzen für das europäische Kino. Von Sodankylä wird man in Zukunft sicher noch hören. Die Finnen kommen...

Peter Lichtefeld