Ein Land versinkt im Chaos

Roland Dusig EIN LAND VERSINKT IM CHAOS

Burma, eines der ärmsten Länder der Welt, verharrt unter der rigiden sozialistischen Führung des großen Vorsitzenden

Ne Win in mittelalterlicher Isolation

Auf dem Höhepunkt des Monsuns kocht und schimmelt Burmas Hauptstadt Rangun vor sich hin. die schwüle Hitze steht buchstäblich in der Luft. Die Straßen sind vollgestopft mit alten klapprigen Vehikeln, Chevrolets und Buicks wie aus einem amerikanischen Krimi der frühen fünfziger Jahre; dazwischen wuseln Mazda-Kleintaxis, die in Burma unter japanischer Lizenz hergestellt werden. Rangun, die Metropole dieses südostasiatischen Landes, das zwischen Indien, China, Laos, Thailand und dem Golf von Bengalen eingezwängt ist, muß früher einmal sehr schön gewesen sein. Doch heute dominiert hier der Verfall. Über die kolonialen Bauten, deren Fassaden seit Kriegsende keinen Anstrich mehr gesehen haben, hat sich ein schmutziger Schleier von Flechten und Algen gelegt. An den einstmals ansehnlichen Innenstadthäusern - einer Mischung aus viktorianischem Pomp und burmesischen Elementen - zerrinnt düster und grau die Zeit. In den ungeteerten Nebenstraßen steht das Wasser knietief und findet keinen Abfluß; die Kanalisation ist zum Stillstand gekommen. Die etwa vier bis fünf Millionen Einwohner - wer weiß das schon genau - teilen sich den engen Lebensraum mit Millionen von Ratten.

Wirtschaftlicher Wohlstand kann nicht gemeint sein, wenn das Staatliche Fremdenverkehrsamt für das „goldene Burma“ wirbt. Eher schon die goldgleißenden Kuppeln der Tempel und Stupas oder die Wesensart der Bevölkerung. Burma, das letzte Überbleibsel des sogenannten alten Asien, in dem die Coca -Cola-Kultur noch nicht Fuß fassen konnte, hat wie kein anderes seiner Nachbarländer seine kulturelle Eigenständigkeit und seinen eigenen Charakter bewahrt. Doch es ist ein armes Land, mit dessen bitterer Realität die Burmesen immer schwerer fertig werden. In erster Linie sind es Mißwirtschaft und die Unfähigkeit der regierenden Sozialisten, die zu Ausplünderung und Verschuldung des potentiell reichen Burma geführt und die einstige Reiskammer Asiens zu einem der acht ärmsten Länder der Welt gemacht haben. In der gegängelten Bevölkerung Burmas aber gärt es. Empörung und Unruhe in dem von der Außenwelt weitgehend abgeschirmten Land nehmen rapide zu. Im 38-Millionen-Volk wächst die Erkenntnis, daß Burmas eigener Weg zum Sozialismus, der absolute Blockfreiheit und Selbstgenügsamkeit in den eigenen Grenzen anstrebt, zwar viele Versprechungen von Gleichheit und Wohlstand, in der Wirklichkeit aber doch nur eine Umverteilung der Armut und eine Zunahme der Entbehrungen für das Volk gebracht hat. Zwar gibt es in Burma im Unterschied zu anderen südostasiatischen Ländern nicht die krassen Gegensätze zwischen Habenichtsen und Superreichen, doch geht es dem Land und seinen Menschen unter dem Strich so schlecht wie nie zuvor. Einst war Burma der größte Reisexporteur der Welt, heute droht der nackte Hunger. Die nunmehr über ein Vierteljahrhundert währende Einparteienherrschaft der „Sozialistischen Programmpartei“ hat das Land mit seinen fruchtbaren Böden und reichen Naturschätzen wie Erzen, Edelsteinen und Hölzern systematisch zugrunde gerichtet. Ein abgeschlossenes Land

Ihre Unabhängigkeit erlangte die ehemalige britische Kolonie im Januar 1948, nachdem die Burmesen lange Kämpfe für ihre politische Souveränität ausgefochten hatten: zuerst gegen ihre Kolonialmacht England, danach gegen die Besatzer aus dem Land der aufgehenden Sonne, die Japaner. Im März 1962 putschte das Militär gegen den versponnenen religiösen Idealisten U Nu, und der aus Offizieren gebildete Revolutionsrat übergab General Ne Win alle Regierungsvollmachten. Mit dem Ziel, Burma zum Sozialismus zu führen, ließ der allgegenwärtige, wenn auch meist unsichtbare Partei- und Regierungschef Handel, Landwirtschaft und Industrie verstaatlichen. Besondere Popularität genoß der General nie, aber stets war er in den letzten 25 Jahren unbestritten die beherrschende Figur der politischen Szene. Seit dem unblutigen Staatsstreich von 1962 und dem kurz darauf folgenden Verbot aller politischen Parteien spielt die Armee die dominierende Rolle in Staat und Gesellschaft. Sie kontrolliert die Verwaltung, die Wirtschaft bis hinunter auf die unterste Ebene des Handels und Verkaufs, das Bildungswesen sowie natürlich die 1962 neugegründete Staatspartei.

Während andere Länder Asiens sich den Fortschritt erobert haben und darüber reich geworden sind, verharrt die „Sozialistische Republik der Union von Burma“ unter der Ägide des großen Vorsitzenden Ne Win wie hinter einem Bambusvorhang in mittelalterlicher Isolation. Obwohl jede Woche ein Dutzend Flugzeugladungen von Ausländern ins Land gelassen werden, ist Burma nach wie vor ein abgeschlossenes Land. Denn Burmesen dürfen so gut wie nie ihren Staat verlassen, und Ausländern, deren Touristenvisum auf sieben Tage beschränkt ist, können nur einen kleinen Landesteil auf vorgeschriebenen Routen bereisen. Geschäftsleute und Journalisten sind generell nicht zugelassen, Buch- und Zeitschriftenimporte verboten, desgleichen nach wie vor politische Parteien und freie Meinungsäußerung. Einer Öffnung a la China, wie sie von Teilen der Parteibasis immer lautstarker gefordert wird, widersetzt sich die orthodoxe Parteiführung vehement. Den GÜrtel

noch enger schnallen

Die Wirtschaftsstrategen der autoritär herrschenden Einheitspartei bekommen die drängendsten ökonomischen Probleme des Landes nicht in den Griff. Burma hat derzeit fast vier Milliarden US-Dollar Auslandsschulden. Der Schuldendienst liegt bei 80 Prozent der Exporterlöse (25 Prozent sind das höchste, was international als vertretbar gilt). Die jährliche Inflationsrate beträgt rund 20 Prozent, und von den 6.000 Studenten, die jedes Jahr die Universitäten verlassen, finden nur 300 beim Staat eine Anstellung. Die übrigen tauchen unter auf dem florierenden Schwarzmarkt, verdingen sich als selbsternannte Touristenführer oder treten als Rikschafahrer in die Pedale. Burma dürfte das einzige Land der Welt sein, wo gewöhnliche Rikschafahrer einen Hochschulabschluß haben. Ein besonders krasses Beispiel für staatliche Fehlplanung: Vor einigen Jahren wurde in der Nähe der zentralburmesischen Stadt Meiktila eine Textilfabrik errichtet. Mit Militärgewalt zwang die Regierung die Bauern der dortigen Region, statt das lebenswichtige Grundnahrungsmittel Reis den für die Textilproduktion benötigten Rohstoff Baumwolle anzupflanzen. Das aber erforderte den Einsatz von teurem Kunstdünger und kostspieligen Pflanzenschutzmitteln. Die staatlich festgesetzten Aufkaufpreise für Baumwolle deckten letztendlich nicht einmal die Produktionskosten der Bauern. Angesichts der ökonomischen Wirklichkeit des Landes erscheint es wenig wahrscheinlich, daß das von Parteichef General Ne Win für die nächsten Jahre prognostizierte Wachstum des Bruttosozialprodukts um 5,5 Prozent und ein Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens (derzeit unter 180 US-Dollar jährlich) um 2,5 Prozent realisierbar sind.

Aufgrund der hoffnungslosen wirtschaftlichen Lage des Landes hat Rangun vor kurzem in aller Stille bei den Vereinten Nationen den Status eines der am wenigsten entwickelten Länder beantragt. Das würde den Zugang zu billigeren Krediten öffnen. Die Europäische Gemeinschaft und der Internationale Währungsfonds haben bereits Hilfsbereitschaft signalisiert, würden ihre Hilfe allerdings mit Auflagen verbinden. Das geradezu manisch auf seine Unabhängigkeit bedachte Burma, das sogar aus der Bewegung der Blockfreien ausgetreten ist, winkte deshalb ab, und der große Vorsitzende Ne Win befahl seinem Volk, den Gürtel noch enger zu schnallen. Burma aber leidet nicht nur unter der Unfähigkeit und sturen Ignoranz seiner Wirtschaftsplaner, das Land ist auch ein Opfer der ständig sinkenden Rohstoffpreise und des Dollarverfalls. Auch eine weitere, von der Regierung bereits seit Anfang der siebziger Jahre angezapfte Devisenquelle, der Tourismus, wird den früher oder später drohenden Bankrott des ausgebluteten Landes, das unter der Last seiner Schulden erstickt, nicht abwenden können. Puritanischer Alltag

Blühender Schwarzmarkt

Der burmesische Alltag begegnet dem Besucher bei einem abendlichen Bummel durch Rangun, dessen Nachtleben so aufregend ist wie das einer niederbayerischen Kleinstadt. Die lärmerfüllte Glitzerwelt von Bangkok scheint unendlich weit entfernt. Die Menschen auf der Sule Pagoda Road, eine der bedeutenderen Straßen der Hauptstadt, sehen alle gleich aus, Männer wie Frauen: ein Longyi, das sarongähnliche, burmesische Wickelgewand, um die Hüften, darüber eine Bluse oder ein Hemd und an den Füßen Gummisandalen. Ein Brunnen an der Straßenecke dient als öffentlicher Badeplatz. Die Schaufenster der Ladengeschäfte sind nur spärlich beleuchtet. Die gähnende Leere braucht kein Licht.

Überall aber floriert der Schwarzmarkt. „Mister, du verkaufen? Kugelschreiber, Zigaretten, Whiskey? Hier bester Preis! Wollen du Geld wechseln?“ Direkt unter den Augen des Staates hat sich der Schwarze Markt zum blühendsten Wirtschaftszweig Burmas entwickelt. 80 Prozent des Bruttosozialprodukts, so schätzen Beobachter, werden auf diese Art und Weise erwirtschaftet. Ohne die komplette „alternative“ Ökonomie des Schwarzen Marktes wäre Burma kaum mehr lebensfähig. Denn der Schwarzmarkt hält nicht nur die von Touristen eingeführten Produkte wie Zigaretten (Marlboro 100S) und Whiskey (Johnny Walker Red Label) oder andere ins Land geschmuggelte Luxusgüter des kapitalistischen Auslands bereit, sondern auch (über-)lebenswichtige Grundnahrungsmittel wie Reis und Gemüse, die aus Thailand, der Hauptbezugsquelle für Schwarzmarktgüter, kommen. Waren im Wert von über einer halben Million US-Dollar werden täglich über die grüne Grenze geschmuggelt (beispielsweise über den „Three Pagoda Pass“ zwischen Burma und Thailand, südöstlich von Moulmein), vom Taschenrechner bis zu Autos, die in ihre Einzelteile zerlegt sind. Bezahlt wird das hereinkommende Schmuggelgut mit Edelsteinen, vor allem Rubinen und Jade, Gold, Zinn- und Zinkkonzentraten, kostbaren Edelhölzern wie Burma-Teak und nicht zuletzt mit Rauschgift. Das größte Geschäft machen dabei die traditionell aufständischen burmesischen Bergstämme der Karen, Shan, Kachin und Mon, in deren schwer zugänglichen Dschungelrefugien die meisten Reichtümer liegen. Überall im Lande gärt es

Diese Rebellen, die entweder eine Autonomie in einer burmesischen Föderation oder einen eigenen Staat anstreben, müssen auch zur Klärung für die wirtschaftliche Misere herhalten. Nicht ganz zu Unrecht, denn der Einsatz der 180.000 Mann starken Zentralarmee gegen die Aufständischen verschlingt die letzten Reserven des Staates. De facto besteht die burmesische Union nur auf dem Papier. Denn seit der Unabhängigkeit 1948 herrscht praktisch Bürgerkrieg im Lande, der sich intensivierte, nachdem sich Rangun nicht an die Absprache gehalten hatte, den Bergstämmen 15 Jahre nach der Unabhängigkeit die Möglichkeit zum Verlassen der Union zu geben.

Die gut ausgerüsteten Guerrillagruppen der aufständischen Minderheiten, die sich zum Teil zur „National Democratic Front“ (NDF) zusammengeschlossen haben, kontrollieren fast die Hälfte Burmas. Am meisten zu schaffen machen der Zentralregierung in Rangun die 4.000 im Südosten an der Grenze zu Thailand operierenden Guerilleros der „Karen National Union“ (KNU). Kopfzerbrechen bereiten den Militärstrategen in Burmas Hauptstadt aber auch die 2.000 Mann starke Shan-Armee des Opiumkönigs Khun Sa im Osten sowie die „Kachin Independence Army“ (KIA) im Norden. Die Dachorganisation der Untergrundarmeen, die NDF, soll mittlerweile Kontakte zur stärksten und am besten organisierten Gruppe der Rebellen gesucht haben, zur 20.000 Mann starken Guerilla-Armee der „Burmese Communist Party“ (BCP). Für das militärisch schwache Regime in Rangun ist eine derartige Koalition ein Alptraum. Aufgrund gravierender Interessengegensätze waren derartige Allianzen der verschiedenen aufständischen Armeen bislang aber immer nur von kurzer Dauer. Die Erfolge der Zentralarmee, der es im letzten Jahr gelungen war, die Freischärler in die Defensive zu treiben und deren Einkünfte aus dem Grenzschmuggel und dem Drogengeschäft um angeblich 60 Prozent zu senken, erklären sich in erster Linie aus der Zerstrittenheit der einzelnen Guerillatruppen.

Trotz verschiedener, anscheinend unkoordinierter Terrorakte, die vermutlich auf das Konto von Untergrundkämpfern gehen und einen hohen Blutzoll unter der Zivilbevölkerung forderten (Januar 1988: Bombenanschlag auf einen Personenzug in Rangun mit elf Toten und 40 Verwundeten; Februar 1988: Bombenanschlag in einer nordburmesischen Kleinstadt nahe der chinesischen Grenze mit zwölf Toten und 133 Verwundeten) wogt unter den Burmesen eine bislang ungekannte Sympathiewelle für die Aufständischen. Überall im Lande gärt es. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert macht sich der aufgestaute Unmut Luft. Nicht allzu laut allerdings, denn beinahe jeder hat Angst. Furcht vor den allgegenwärtigen Spitzeln der Staatspartei, die Unbotmäßigkeit empfindlich bestraft, mit Entlassung aus dem Staatsdienst zum Beispiel oder Entzug der wichtigen Bezugsscheine für eine ganze Reihe von Grundnahrungsmitteln und rationierten Haushaltswaren, die freilich selten genug zu haben sind. Der Widerstand formiert sich

Die Burmesen gelten als ein sehr geduldiges Volk, das Staat und Partei wenig Interesse entgegenbringt, seine Erfüllung aber im Privaten findet, in einem Leben, in dem der Buddhismus das dominierende Element darstellt. Konsum spielt im Dasein der meisten Burmesen, die sich mit der Armseligkeit ihrer Existenz abgefunden haben, keine große Rolle. Doch mit zwei Willkürmaßnahmen hat die Partei allem Anschein nach den Bogen überspannt: Im Dezember 1985 erklärte die Regierung über Nacht alle Zwanzig-, Fünfzig und Hundert-Kyat-Noten für ungültig. Die wertlosen Geldscheine mußten bei den Staatsbanken abgeliefert werden. Im Austausch gab es nur neues Geld, wenn man auf komplizierten Fragebögen einleuchtend beweisen konnte, wann und von wem man die alten Scheine bekommen habe, jede einzelne Banknote. Zehntausende von Burmesen, die, weil sie den staatlichen Banken nicht trauten, seit Jahren ihre Ersparnisse zu Hause versteckten, fühlten sich betrogen, manche um jahrelange Arbeit. Bei einer ähnlichen Aktion wurden im September 1987 rund 60 Prozent der nationalen Währung aus dem Verkehr gezogen. Wieder verloren zahllose Burmesen mit einem Schlag ihr gesamtes Vermögen. Als offizielle Erklärung für die Geldentwertung ließ die Regierung verlauten, man wollte damit die mächtigen Schwarzmarkthändler treffen und die finanziellen Ressourcen der Aufständischen eliminieren. Für Schmuggler und Guerilleros aber spielt der burmesische Kyat keine große Rolle, für sie ist der amerikanische Dollar die inoffizielle Hartwährung. Die willkürlichen Geldentwertungen also trafen in erster Linie den kleinen Mann. Vor allem auf die zweite Geldentwertung reagierten Studenten in Rangun mit Protestdemonstrationen, die schließlich zu blutigen Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften eskalierten. Insbesondere in Kreisen jugendlicher Intellektueller, die für sich im burmesischen Sozialismus keine Zukunftschancen mehr sehen, scheint sich der Widerstand gegen die autoritäre Staatsmacht zusehends zu formieren. Zu den bislang heftigsten Studentenunruhen der letzten Jahre, in deren Verlauf Busse und Wohnwagen in Brand gesteckt und die Fensterscheiben von Regierungsgebäuden eingeworfen wurden, kam es Mitte März dieses Jahres in Rangun. Offiziellen Angaben zufolge forderte die Militäraktion zur Niederschlagung des Aufruhrs ein Menschenleben, westliche Diplomaten dagegen sprachen von zehn bis 30 Toten.

Solange der heute 77jährige Putschgeneral Ne Win, der das einst blühende Land in 25 Jahren zu einer Bettlernation heruntergewirtschaftet hat, am Ruder ist, wird sich nichts ändern, heißt es in Rangun. Eine offene Frage aber ist es, ob seine Nachfolger, sicherlich wieder Militärs, einen anderen, vernünftigeren Kurs einschlagen werden. Es erscheint durchaus möglich, daß es nach Ne Win nicht nur zum Machtkampf in der Militärführung kommt, sondern auch zum endgültigen Zerfall der burmesischen Union.