E88 VON A-Z

■ Freitags alte Klasse in der Waldbühne, samstags bunte Rasse in Kreuzberg

So ein krampfhaft guter Wille, das Angebot an kultureller Abwechslung möglichst ideenreich zu fächern, reißt dieses Jahr, erstmal richtig in Fahrt gekommen, so schnell wohl nicht mehr ab. Ein paar ganz verführerische Sinnesreiz -Signale Berlins blinkten auf und prompt wurde zwanghaft davon Gebrauch gemacht. Am Freitag ließ die Stammkundschaft der Philharmonie die galante Robe im Schrank hängen, wälzte sich, zusammen mit breit angelegten Touri-Vereins -Organisationen, Richtung Waldbühne und hinterließ hinter den Eingangs-Gittern ein leichtes Verkehrs-Chaos. Von der praktischen Intelligenz der ordentlichen West-Deutschen angesteckt, hatte sogar der sonst eher spontane Berliner Musikfreund vorausschauend Material für eventuelle Regenschauer in seinem Repertoire zur Hand. Was während der vorgetragenen Matthäus-Passion auch gebührend zum Einsatz kam.

Ganz anders dagegen am frühen Samstag abend zu Sportschau -Zeiten: Straßengassen-Frischmief-Fanatiker, auf der Suche nach Unterhaltung, okkupierten rund um den Südstern in Kreuzberg 61 nach dem Rotationsprinzip diverse Hinterhöfe und kamen so in den Genuß von ausländischer Folklore und sozialem Wohnelend. Herrlich war es sicherlich für beide Initiativen.

Freitags erscholl unter der Riesen-Zeltplane aus (angeblich 300) in- und ausländischen Chorkehlen das vertonte Matthäus -Evangelium in der von einem gewissen F.M. Bartholdy gerafften Version. Es ging um die populärste Hinrichtung der Neuzeit. Der Name des Opfers war Jesus; mit einem dänischen Sinfonie-Orchester und fünf SolistInnen wurde die alte Geschichte richtig emotional ergreifend nochmal aufgewärmt. Gegen halb zehn sickerten dann die ersten Kerzenwachs-Tränen in den Rasen. Gelähmt von der theatralischen Darbietung waren die Blicke betroffen zur Bühne gerichtet und andächtige Stille lauerte über dem Areal.

Locker ging es dagegen samstags in der Körtestraße zu. Schilder wiesen den sinnlos umherschlendernden Menschen -Gruppierungen den Weg in den richtigen Hinterhalt. Engagierte Kultursanitäter verteilten kleine Kiez-Kärtchen mit den verzeichneten Hinterhöfen, und schlaue Nasen hatten nach kaum einer Stunde das Prinzip raus: Entweder suchte man sich den schönsten Hof aus und harrte der Künstler, die da nacheinander durchmusizierten, oder ließ den fremdländischen Reiz der internationalen Darsteller an mehreren Orten auf sich wirken. Begann die Mini-Parade auch erst schleppend, gegen acht hatten, durch die Lautstärke auf sich aufmerksam gemacht, die un- und begrünten Quadrate regen Zulauf.

Der Mischung mangelte es ganz und gar nicht an unauffälligen Nettigkeiten. Chilenische Melancholie, türkisches Klageweh, südafrikanisches Ramba-Zamba, slawische Zigeunerromantik bis hin zum avantgardistischen Solo -Saxophonisten traten sich an manchen Stellen nahezu auf die Füße. Irgendwo muß noch eine Claire-Waldoff-Chansonette getingelt haben, die habe ich verpaßt.

Ganz anders das Waldbühnen-Bild. Ohne Regung verharrten die Lauscher auf den unterkühlten Bänken, abgesehen vom rhythmischen Auf- und Zuzippen des Regenschirmes bei Schauerneigung. Glücklich kreischende Kinder waren akzeptiert, jede weitere Art von Störung wurde mit strafenden Blicken oder einem gezischelten „Psssscht!“ abgewürgt. Fast zwei Stunden dauerte das Szenario; die Drohung der Veranstalter, daß die Besucher die Choräle mitmauzen dürfen, bestätigte sich wie erwartet nicht. Unter dem Begeisterungs-Taumel der applaudierenden Klassik-Fans galoppierten die Kammerjammerer von der Bühne auf die Bühne, bis sie dann, der Ursache ihrer Müdigkeit auf die Spur gekommen, wieder Platz nahmen und der Chor eine Zugabe hinlegte. Nix Fesches, da wurde nochmal was aus der Mottenkiste gekramt; dann war endlich Ruhe und die Mehrheit entzückt.

Verflucht sauer mußten die Bewohner der intervenierten Hinterhöfe hingegen sein. Nicht einmal ein paar nette Worte zur Information hatten die Hausverwaltungen und -besitzer an sie gerichtet, die ihre Grundstücke eigens für die Aktion zur Verfügung gestellt hatten. Nein, eine Woche vor Austragungsdatum lag eine Nachricht der E88-schwer-was-los -Kommission im Briefkasten, wann und um wieviel Uhr sie mit den Tatsachen konfrontiert werden würden. Kaum verwunderlich, daß x-Fenster demonstrativ geschlossen blieben und wurden, unwirsche Alte zwischen Geranien und Gardinen hervorzeterten und sogar ein Hausmusizierender seine Etüden wegen lauter Akkordeon-Musik abbrechen mußte. „Yeah“, muß da mancher bei so viel Background-Kultur in sich hineingerufen haben, wo ja selbst potentielle Mörder-Winkel zu rummelhaftem Leben erwachten. Böse Zungen wiederum könnten behaupten, daß bloß die gesamte Nachbarschaft auf den Beinen war. Am Telefon des E88-Info(!)-Büros war nämlich trotz zehnminütiger Wartezeit nicht zu erfahren, wo genau was läuft. So kann man bestimmte Leute natürlich auch vor ihrem Unglück bewahren.

Connie Kolb