Mit Steinen und Hämmern ins Parlament

■ Für das Frauenstimmrecht tat sie alles: Emmeline Pankhurst provozierte die Staatsmacht, organisierte militante Aktionen, wurde verfolgt und inhaftiert / Aber bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird sie glühende Nationalistin, an ihrem Lebensende war sie Kandidatin der Konservativen / Am 14.Juli jährt sich der Geburtstag der englischen Suffragette zum 130.Mal

Heide Soltau

In Londons City herrscht reger Betrieb. Elegante Damen flanieren am Arm ihrer Herren, Dienstmädchen machen die letzten Besorgungen, und Gouvernanten beaufsichtigen ihre spielenden Zöglinge. Plötzlich ertönt ein Läuten. Wenig später biegt eine Gruppe Frauen um die Ecke. An der Spitze eine Dunkelhaarige, die energisch eine Glocke schwingt und so lange Lärm schlägt, bis die Passanten endlich stehen bleiben. Inzwischen ist ein Stuhl besorgt, den nun eine Dame mittleren Alters besteigt und als Rednertribüne benutzt:

„Wir sind der Überzeugung, daß Frauen teilhaben müssen an der Reform der Mißstände, die die Gesellschaft krank machen, besonders jener Mißstände mit direkten Auswirkungen auf Frauen selbst. Deswegen verlangen wir vor jeder anderen Gesetzesänderung, was es auch sei, die elementare Gerechtigkeit des Wahlrechts für Frauen.“

Die Frau, die 1906 diese flammende Rede hält, ist Mrs.Emmeline Pankhurst: 48 Jahre alt, Mutter von fünf Kindern und seit acht Jahren verwitwet. Sie ist schon seit langem in der Stimmrechtsbewegung aktiv und weiß, daß sich allein mit Petitionen oder braven Versammlungen nichts erreichen läßt. Wenn die Frauen Erfolg haben und gehört werden wollen, müssen sie die konventionellen Vorstellungen von dem, was als ladylike gilt, über Bord werfen und auf die Pauke hauen. Emmeline Pankhurst hatte deshalb vorgeschlagen, die „Methoden der Heilsarmee“ anzuwenden und mit der Glocke in der Hand und Informationsmaterial unterm Arm lärmend durch Londons Straßen zu ziehen. Emmeline Pankhurst hat Recht, die Frauen erregen Aufsehen. Sobald die Glocke der „Wahlrechts-Armee“ erklingt, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: „Die Suffragetten sind da! Kommt mit!“ Suffragisten und Suffragetten

Als Emmeline Goulden am 14.Juli 1858 in Manchester geboren wird, gibt es in Großbritannien schon Ansätze einer Stimmrechtsbewegung. Erster Protest war bereits nach der Reform Bill 1832 lautgeworden, denn bis zu dem Zeitpunkt besaßen Frauen gleiche politische Rechte wie Männer: Adlige Männer und Frauen, städtische und ländliche Haushaltsvorstände durften die Parlamentsvertreter wählen. In Großbritannien galt seit jeher der Grundsatz: „Besteuerung ohne parlamentarische Vertretung ist Raub.“ Freilich kamen nur wenige Frauen in den Genuß dieser Rechte, doch war die Klasse und nicht das Geschlecht Grund für ihre Diskriminierung. Die Reform Bill machte dem ein Ende, indem nun nur Männer die politischen Rechte wahrnehmen durften.

In den sechziger Jahren entsteht mit Unterstützung John Stuart Mills ein erster Stimmrechtsverein, in dem nicht nur Frauen, sondern auch Männer aktiv sind. Die Suffragisten, wie die „friedlichen Stimmrechtler“ im Unterschied zu den Militanten, den Suffragetten, genannt werden, erzielen im Laufe der Jahre auch einige Erfolge. Doch das Wichtigste, das parlamentarische Wahlrecht, enthält man ihnen selbst dann noch vor, als 1883 eine neue Klasse einschließlich der Landarbeiter zur Wahlurne zugelassen wird. Das heizt die Stimmung unter den Suffragisten an.

1879 heiratet die 21jährige Emmeline Goulden den Rechtsanwalt Richard Pankhurst, einen langjährigen Suffragisten und Mitstreiter John Stuart Mills. Gemeinsam engagiert sich das Ehepaar für die Sache der Frauen und setzt seine Hoffnungen zunächst auf die Liberale Partei und später, nach Gründung der unabhängigen Labour Party, auf die Sozialisten. Nach dem Tod Richard Pankhursts 1898 tritt die Stimmrechtsfrage für Emmeline Pankhurst zunächst in den Hintergrund - sie muß den Lebensunterhalt für die Familie verdienen. Das ändert sich 1903. Zum Andenken an ihr ehemaliges Mitglied Richard Pankhurst plant die Labour Party die Errichtung einer „Pankhurst Hall“. Am Tag der Eröffnung stellt sich heraus, daß Frauen der Zutritt zu den Räumen nicht gestattet ist. Emmeline Pankhurst ist empört und zieht Konsequenzen. Sie gründet die WSPU, die „Women's Social and Political Union“:

Unsere Mitglieder konzentrieren alle ihre Kräfte auf einen Gegenstand: politische Gleichheit mit den Männern. Kein Mitglied der WSPU vergeudet seine Energie für irgendeine andere soziale Reform, sondern widmet sich allein dem Wahlrecht ... Männer können niemals Frauen befreien. Die Männer der Labour Party sind in der Hinsicht eben nicht besser als andere auch. Frauen müssen sich selbst befreien. Wir wollen Taten. Nicht Worte.“

Die Taten lassen nicht lange auf sich warten. Die Geduld der Frauen ist erschöpft. Jahrelang hatte man sie hingehalten und ihre Gesetzesanträge und Petitionen nicht behandelt. Am meisten empörte die Frauen, daß sie stets ebenso zur Kasse gebeten wurden wie die Männer. Sie durften nach wie vor Steuern bezahlen - wenn es um Pflichten ging, war plötzlich von Gleichheit die Rede -, während man ihnen Rechte verweigerte. Das wollen sich die Frauen nicht mehr länger gefallen lassen. Die Staatsmacht provozieren

Zusammen mit ihren Töchtern Christabel und Sylvia sowie einigen wenigen Vertrauten plant Emmeline Pankhurst die Staatsmacht zu provozieren und so die Stimmrechtsfrage in die Öffentlichkeit zu bringen. Auf einer Wahlveranstaltung der Liberalen sollen die Redner Sir Edward Grey und Sir Winston Churchill gezwungen werden, zum Frauenwahlrecht Stellung zu beziehen. Wenn keine Antwort kommt, wovon die Gruppe um Emmeline Pankhurst ausgeht, sollen die anwesenden Frauen laut protestieren und dafür sorgen, daß man sie festnimmt. Der Plan geht auf. Als Christabel Pankhurst und Annie Kenney auf der Veranstaltung ein Transparent mit der Parole „Stimmrecht für Frauen“ entrollen, kommt es zu tumultartigen Auseinandersetzungen und tätlichen Angriffen auf sie, in deren Verlauf Polizei und Ordner die Frauen aus dem Saal schleppen. Kaum hat man sie vor die Tür gesetzt, als die Frauen auch schon eine Protestversammlung abhalten. Das bringt das Faß zum Überlaufen. Die beiden Rädelsführerinnen werden verhaftet und vor Gericht gestellt. Ein Bußgeld von zehn Schillingen oder sieben Tagen Haft lautet das Urteil. Wie vorher abgesprochen, entscheiden sich die Frauen für die Haftstrafe und machen damit den Skandal perfekt: Zwei unbescholtene Mächen im Gefängnis, Seite an Seite mit Dieben und Mördern, das bewegt die Gemüter und bringt die Stimmrechtsfrage in die Schlagzeilen der Medien. Endlich. Dafür hatten die Suffragetten lange gearbeitet.

Nachdem ihre Taktik so erfolgreich war, fahren die Suffragetten fort, sich des Mittels der physischen Präsenz zu bedienen. Sie versuchen, sich Einlaß ins Parlament zu verschaffen, ziehen zur Dienstwohnung des Premierministers in der Downing Street, ketten sich öffentlich an und halten Kundgebungen ab, an denen sich immer mehr Menschen beteiligen. An einer Versammlung im Hyde Park nehmen 1908 rund 250.000 Personen teil. Damit stellen die Frauen alles bisher Dagewesene in den Schatten, denn zu den größten Männerdemonstrationen waren „nur“ 72.000 Teilnehmer erschienen. Im Juni 1908 veranstalteten die Suffragetten eine Kundgebung auf dem Parliament Square. 100.000 Menschen folgen ihrem Aufruf, aber die Veranstaltung findet nicht statt. 5.000 zum Teil berittene Polizisten lassen keine von ihnen zu Wort kommen und sorgen mit Gewalt dafür, daß der Platz geräumt wird. 29 Suffragetten werden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Das ist die Wende. Gezwungenermaßen, wie Emmeline Pankhurst in einer eindrucksvollen Rede begründet, entschließen sich die Suffragetten deshalb zu härteren Mitteln. Sie werfen Steine:

Warum sollen Frauen auf den Parlamentsplatz gehen, sich niederschlagen und beleidigen lassen, und was am wichtigsten ist, damit weniger Wirkung erzielen, als wenn sie Steine werfen? Wir haben es lange genug versucht. Wir haben uns über viele Jahre lang geduldig Beleidigungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt. Und Frauen wurde die Gesundheit ruiniert, Frauen verloren ihr Leben. Wir hätten sogar das in Kauf genommen, wenn es zum Erfolg geführt hätte, aber es führte nicht dazu. Wir machen mit den Glasscheibenzerbrechen viel größere Fortschritte mit weniger Verletzungen unsererseits, als wir jemals machten, als wir zuließen, daß sie uns unsere Knochen brachen.“

Seitdem sind die Fenster von Ministerien und Geschäften vor den Frauen nicht mehr sicher. Wiederholt ziehen große Gruppen auch gutbürgerlicher Damen in Hut und Mantel durch Londons Straßen, in der Hand Steine und Hämmer, um die Scheiben von einflußreichen Wählern zu zertrümmern. Aber statt neue AnhängerInnen zu gewinnen, lösen die militanten Aktionen in der Öffentlichkeit heftige Reaktionen aus. Viele, die bis dahin die Suffragetten unterstützt haben, distanzieren sich von der Gewalt. Doch Emmeline Pankhurst läßt sich davon nicht verunsichern. Sie verteidigt die Strategie der Frauen:

„Seit die Militanz die Form der Zerstörung von Eigentum angenommen hat, hat die Öffentlichkeit im In- und Ausland allgemein ihre Verwunderung darüber ausgedrückt, was denn der logische Zusammenhang zwischen den Aktionen wie Zerschlagung von Scheiben, In-Brand-Stecken von Briefkästen und dem Wahlrecht ist. Nur ein völliger Mangel an Geschichtsbewußtsein entschuldigt diese Verwunderung. Denn jeder Fortschritt im Hinblick auf die politische Freiheit der Menschen wurde durch Gewalttätigkeit und Zerstörung von Eigentum errungen“.

Wann immer die Polizei die Suffragetten bei ihren militanten Aktionen erwischt, kommen sie für einige Wochen nach Holloway, in das Londoner Gefängnis. Aber die Frauen lassen sich davon nicht abschrecken. Sie machen weiter mit ihren spektakulären Aktionen und schaffen es, sogar Prominente für ihre Sache zu gewinnen, zum Beispiel die Komponistin Ethel Smyth. Auch sie wird wegen Steinewerfens nach Holloway gebracht und in die Zelle neben Emmeline Pankhurst gesteckt. Dabei soll es zu folgender Begebenheit gekommen sein, wie der Dirigent Sir Thomas Beecham schreibt, der die Komponistin gemeinsam mit George Bernard Shaw im Gefängnis besuchte: „Ich erreichte den Gefängnishof und sah, wie die edle Gesellschaft der Märtyrerinnen auf und abmarschierte, aus voller Brust ihren Kriegsgesang schmetternd, während die Komponistin ... aus einem höher gelegenen Fenster schaute und ... den Takt mit der Zahnbürste schlug.“

So ausgelassener Stimmung sind die Inhaftierten freilich nicht immer. Im Gegenteil, der Kampf geht auch im Gefängnis weiter. Die Suffragetten verlangen, wie politische Gefangene und nicht wie Kriminelle behandelt zu werden. Als man sich darauf nicht einläßt, treten die Frauen in den Hungerstreik. Doch vergeblich. Statt auf ihre Forderung einzugehen, reagiert der Staat mit Zwangsernährung. Zwei Jahre, von 1912 bis 1914, währt der Kampf zwischen den Frauen und der Regierung. Auf Hungerstreiks folgen Zwangsernährung und Entlassungen und erneute Inhaftierungen, wenn sich die Frauen gesundheitlich erholt haben. Anpassung

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzt dem ein Ende. Gleich zu Beginn ruft Emmeline Pankhurst die Suffragetten auf, ihre militanten Aktionen einzustellen und sich in die Heimatfront einzureihen. Großbritannien muß siegen, nur darum geht es. Plötzlich werden auch die zu begeisternden Patriotinnen, die vorher im Kampf um das Wahlrecht den Staat bekämpft hatten. Allerdings folgen nicht alle Suffragetten der Linie Emmeline Pankhursts. Tochter Sylvia beispielsweise steht auf Seiten der Kriegsgegner, sie schließt sich der internationalen Frauenfriedensbewegung an und feiert den Sieg der russischen Revolution. Emmeline Pankhurst distanziert sich daraufhin öffentlich von dieser Tochter, mit der sie jahrelang Seite an Seite gekämpft und viele Wochen in Holloway zugebracht hatte.

Zermürbt von den harten Auseinandersetzungen der letzten Jahre, sucht sie nach einer späten Anerkennung und wird wie die Mehrheit der britischen Bevölkerung zu einer glühenden Bolschewistin und Moralistin. Und als man in Großbritannien nach Kriegsende nur weiblichen Haushaltsvorständen ab 30 sowie den Frauen der Haushaltsvorstände das Wahlrecht verleiht und so dafür sorgt, daß trotz des Frauenüberschusses dennoch mehr Männer zur Urne gehen dürfen, erhebt Emmeline Pankhurst keinen Protest mehr. Sie siedelt nach Kanada über und kehrt erst 1926 nach London zurück, heftig umworben von den Konservativen, die sie bei den nächsten Wahlen als ihre Kandidatin aufstellen wollen. Emmeline Pankhurst, die ehemals radikale Stimmrechtlerin, die alle Männerparteien bekämpfte, weil sie Frauen die politische Gleichheit verwehrten, geht auf das Angebot ein. Der Versuchung, selbst ein Stück an der Macht teilzuhaben, für die sie jahrzehntelang gekämpft hat, kann die knapp 70jährige Veteranin der „Wahlrechts-Armee“ nicht widerstehen.

Emmeline Pankhurst erlebt weder den Ausgang der Wahlen, noch den Tag, an dem die britischen Frauen endlich das gleiche Wahlrecht erhalten wie die Männer. Sie stirbt am 14.Juni 1928. Inzwischen haben die Briten der berühmten Suffragette ihre Militanz verziehen und ihr längst ein Denkmal errichtet. Aufrecht stehend, mit einem Ausdruck der Genugtuung blickt die steinerne Emmeline Pankhurst in Richtung Parliament Square: eine zur konservativen Nationalheldin geläuterte „Chaotin“ und „Terroristin“.