„Es ist schon beeindruckend“

Der heute 57jährige György Krasso war 1956 einer der Führer des ungarischen Arbeiter-Aufstandes  ■ I N T E R V I E W

Zusammen mit György Konrad ist Krasso der Großvater der demokratischen Opposition Ungarns. Er lebt seit 1986 in London, nachdem er selbst noch Anfang der 80er Jahre in seiner Heimatstadt Budapest polizeilich verfolgt wurde. Wegen seiner Texte und Mitwirkung an den Untergrundschriften lebte er ähnlich wie Sacharow unter Hausarrest, der erst aufgrund internationaler Proteste aufgehoben wurde.

taz: 1956 kamen die ersten russischen Truppen ins Land, jetzt kehren sie, will man der 'New York Times‘ Glauben schenken, endlich wieder heim. Wie empfindest du das?

Krasso: Das hat als erstes eine bedeutende Wirkung auf die Menschen. Ein kluger Schachzug von Goratschow. Die Ungarn fühlen sich ein Stück näher zu Westeuropa, zu dem sie sich mehr angezogen fühlen als zu dem östlichen Verteidigungsbündnis. Doch jeder weiß auch: Man hat weiterhin eine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion. Über Nacht können die Truppen auch wieder zurückkommen.

Für dich wäre Gorbatschows Vorschlag kein bedeutender Schritt zur Entspannung?

Ich erinnere mich, daß in jeder Umbauphase der Sowjetgesellschaft, in jeder innenpolitischen Krise außenpolitisch große Zugeständnisse gemacht wurden. Sofort nach Stalins Tod zog man zum Beispiel die Truppen aus Österreich ab und gewährte dem westlichen Nachbarn Ungarns einen neutralen Status. Das fiel natürlich auch deshalb leichter, weil die österreichische Regierung klarlegte, ins westliche Bündnis werde sie nicht eintreten.

Und auch Finnland wurde für seine Neutralität belohnt. Gebiete, die die Sowjetunion Stalin in Raubzügen den Finnen gestohlen hatten, kamen wieder frei. Im selben Jahr räumten die Sowjets den Stützpunkt „Port Artur“ für die Chinesen. Unter Gorbatschow wiederholt sich dieser Vorgang. Erst raus aus Afghanistan und dann raus aus Ungarn, das ist schon beeindruckend.

Und später raus aus Polen und der DDR?

Nein, das ist utopisch. Die polnische Gesellschaft ist eine andere als die ungarische. Die Polen wollen ihre eigene Revolution machen und keine von oben. Sobald die Sowjettruppen außer Landes gingen, würde sich Jaruzelski keinen Tag mehr halten. Die Ungarn dagegen befürworten kleine Schritte, man sieht es, die Reformen sind viel weiter als die Polen, weil die Bevölkerung aktiver an ihnen teilnimmt. In dieser Lage kann Gorbatschow den Truppen -Rückzug wagen, auch wenn es ein Wagnis bleibt.

Wie sollten die Natoländer jetzt reagieren?

Gorbatschow will weitere neutrale Länder wie Österreich und Finnland. Die Nato sollte dies begrüßen, denn unter Gorbatschow sind Kämpfe für eine nationale Befreiung in einem Ausmaß möglich wie nie zuvor in der Geschichte des Sozialismus. Gorbatschow braucht den außenpolitische Rückzug, um innenpolitisch seine Wirtschaft so zu sanieren, daß die Sowjetunion nicht auf das Wirtschaftsniveau eines Landes der Dritten Welt absackt. Zudem bracht der sowjetische Parteichef ein neutrales Deutschland, die Großmacht in der Mitte Europas macht ihm zu schaffen. Mit den Plänen des Abzugs aus Ungarn verfolgt er eine neue Deutschlandpolitik.

Roland Hofwiler