Am Abgrund des Vergnügens

■ Die längste Polonaise der Welt auf dem Kudamm / Ein Gespräch mit Gottlieb Wendehals, dem Leithammel der 120.000

Bild, SAT1 und Radio in Berlin hatten kräftig an die Berliner Volksseele appelliert und die Einwohner dringlichst gebeten, am letzten Sonntag auf dem Kudamm zu erscheinen. Schließlich galt es, einen Rekord zu brechen. Unter Aufsicht eines Notars sollten die Menschen für das Guinnessbuch der Rekorde eine Polonaise aufstellen. Dazu mußten mehr als 120.000 Teilnehmer einberufen werden. Nichts leichter als das.

taz: Wieviel Polonaisen hast du schon angeführt?

Gottlieb Wendehals: Puuh ... Das kann ich nicht genau sagen. Ich mache das seit 1982 fast jeden Tag. So 1.200 mögen das sein.

Kannst du dich noch an deine erste Polonaise erinnern?

Die lief aus einer Hamburger Diskothek über eine Brücke in den S-Bahnhof Wedel und wieder zurück.

Woher stammt die Polonaise?

Ich weiß nur, das Chopin schon mal eine komponiert hatte. Unsere Polonaise ist 1979 entstanden. Für den Text haben wir zwei Jahre, für die Musik 15 Minuten gebraucht. Wir wollten etwas machen, bei dem jeder teilnehmen kann, wo sich die Massen bewegen können.

Bist du schon mal in einer Polonaise gelaufen?

Nein.

Ist Dir schon mal die Brieftasche geklaut worden?

Mir ist schon soviel dabei geklaut worden. Die Aktentasche, das Huhn, zwei teure Armbanduhren ...

Ist schon mal während einer Polonaise eine Panik ausgebrochen?

In Wolfsburg mußte eine abgebrochen werden, weil sonst Kinder zu Schaden gekommen wären. Und in Münster mußte die Feuerwehr einschreiten, weil die Bühne zu wanken anfing. Ich habe aber immer den Ausgang im Auge.

Ein gefährlicher Job?

Ein gefährlicher Job. Ich bin schon zweimal von der Bühne geflogen und die Leute haben geklatscht.

Die Leute folgen dir, wohin du gehst? Ein verantwortungsvoller Job.

Ja. In Dortmund sind mir knapp 1.000 während einer Veranstaltung durch die Küche, dann durch acht Etagen gefolgt. Überall haben wir an den Türen geklopft und die Leute aus den Betten geholt.

Bestehen lokale Unterschiede in den Polonaisen?

Nein. Von Mallorca bis Berlin sind sie alle gleich. Wenn ich sage: So jetzt ist Polonaise. Dann ist es aus. Das ist der Freifahrtschein für's Verrücktsein. Das reißt mich selber immer wieder mit.

Entstehen hinter deinem Rücken Positionskämpfe?

Manchmal schon. Aber meistens verläuft alles ganz friedlich.

Ist dir schon einmal der Text entfallen?

Nein. Das sind Zeilen die sitzen einfach. Ab und zu mal verliere ich sie aber spontan.

Identifizierst du dich mit den Leuten, die hinter dir herlaufen?

Ja. Ich bin ein volksnaher Typ. Das ist mein Plus. Ich habe keine Hemmungen, auf Leute zuzugehen. Ich würde nie weglaufen.

Du bis früher als anerkannter Jazz-Pianist und Vibraphonist aufgetreten. Verspürst du manchmal keine Lust, zu deinen Wurzeln zurückzukehren?

Mache ich die ganze Zeit. Ich spiele wie ein wahnsinniger wieder Klavier. Und wenn ich im Oktober während des 6-Tage -Rennens auftrete, steht u.a. auch Rock'n Roll, Ragtime und Walzer mit auf dem Programm.

Gab es für dich schon einmal einen Moment, wo du gesagt hast, ich kann nicht mehr, ich will diese Polonaise nie mehr anführen?

Nein. Es ist jedesmal wieder ein Rausch. Musik vermittelt Stimmungen. In der Polonaise sind Frequenzen enthalten, die mich und die anderen immer wieder positiv animieren.

Du kannst dir also vorstellen, auch noch als 90jähriger im Rollstuhl deine Kumpels durchs Altersheim zu ziehen?

Wenn mich jemand schiebt.

Das Gespräch führte Thomas Böhm