Adolf Eheling: Organ-Jäger

■ Realfiktive Skizzen

Adolf Eheling

Die wahren Abenteuer finden im Kopf statt, heißt es. An Monstrositäten und Greuel allerdings ist die Realität einfallsreicher, was sollte ihr noch hinzuerfunden werden? Die Verpflanzung von Gehirnzellen, wie unlängst in Mexiko und England praktiziert, jedenfalls nicht1. Auch nicht die „verbrauchende Embryonenforschung„2 oder die Verwertung von Babys und auch nicht die Jagd auf menschliche Organe. Staatlich erlaubt, ja erwünscht, darf in Ägypten jeder Mensch eine seiner Nieren für eine Transplantation feilbieten. Für die Armen oft genug die einzige Möglichkeit, die Not ihrer Familien zu lindern. Bei dringendem Bedarf, gegen gutes Entgelt, helfen Kriminelle nach, entführen Kinder und lassen ihnen eine Niere herausoperieren. Aus Honduras wurde bekannt, daß Vermittler behinderte Kinder ankauften, angeblich um sie in den USA an Adoptivwillige zu vermitteln, tatsächlich aber um sie regelrecht auszuschlachten3. Und sind die Brutcamps, in denen Frauen Föten als lebende Ersatzteillager produzieren müssen, nicht längst Realität? Beschreiben also fiktive Skizzen in Wahrheit nur die Wirklichkeit? Verbindungen

Unscharf heben sich die dunklen Bergketten im Südosten gegen den grauen Himmel ab, könnten den Passagieren des Helikopters, der das staubige Feld einer heruntergekommenen Hazienda verläßt, ein milchiges Panorama bieten. Bald verschwindet die Maschine im Dunst über der Stadtmitte, kurz darauf wird sie auf dem Flughafen Mexiko-Stadt landen. Diskret lädt man die lebende Fracht um, dann startet der firmeneigene Jet Richtung Ciudad Juarez.

Abseits der Überlandstraße 45, nahe Ciudad Juarez, zwischen Airport und Laguna de Santa Maria, keine 50 Meilen von der US-amerikanischen Grenze entfernt, liegt die Rancho Los Rabanos. Ein doppelreihiger Stacheldrahtzaun mit TV -Überwachung hält allzu neugierige Besucher fern. Keines der Gebäude der Farm ist vom Zaun aus zu sehen, nichts regt sich auf dem riesigen Gelände, nur wer im Norden den Zaun abreitet, kann ab und zu gegen das gleißende Licht der Sonne einen der Hubschrauber wahrnehmen, die in Nord-Süd-Richtung hin- und herpendeln. Des Nachts aber, so hört man von Anwohnern, passieren Lastwagen den Haupteingang zur Carreteras 45.

Auf der amerikanischen Seite der Doppelstadt El Paso-Ciudad Juarez, hart am Rand des Militärgeländes von Fort Bliss, verstreuen sich inmitten der kargen Wüstenlandschaft die flachen, weißen Gebäude einer Außenstation der Transplant Corporation. Gelegentlich wird die Stille über dem Gelände durch Rotorlärm oder durch einen auf der eigenen Bahn startenden oder landenden Jet unterbrochen. Auch hier schützen Zäune mit elektronischen Kameras das Innere gegen Unbefugte.

Ohne Zwischenaufenthalt können die Jets bis Newark durchfliegen, dort stehen Hubschrauber bereit, bringen das kostbare Gut über die Newark Bay, Jersey City und die Upper Bay hinweg, zwischen Freiheitsstatue und den Doppeltürmen des World Trade Centers hindurch direkt nach Brooklyn, gehen nieder auf dem Landedeck, das einen großen Teil des Dachs im Verbindungspunkt der beiden Balken des T-förmigen Verwaltungs- und Klinikgebäudes der Transplant Corporation of North America einnimmt.

Seit ihrer Gründung weisen die jährlichen Geschäftsberichte der Gesellschaft Erfolge aus: Gehörknöchelchen, Corneae, Lungen, Lebern, Herzen, Milzen, Bauchspeicheldrüsen, Darmteile, Eierstöcke, Hautstücke, Knochenmark und an erster Stelle Nieren gehören zur Handelsware - die Nachfrage übersteigt bei weitem das Angebot. Die Daten Hunderttausender von Empfängern sind in den magnetischen Speicherplatten der Corporation abgelagert. Im Kampf gegen die zahlreichen Nonprofit-Gruppen scheint sich die Gesellschaft gut zu behaupten, da sie schneller als jene liefert, obgleich die Zahl ihrer Beauftragten, die landesweit rund um die Uhr todgeweihte Organspender in Intensivstationen ausfindig machen, nur gering ist. Figuren

Offiziell wurde es ihm nie nachgewiesen, dennoch, niemand zweifelt daran, daß Andrew B.Kaposi engste Verbindungen zur Mafia unterhält. Der Grundstein dieser Beziehung wurde in den siebziger Jahren gelegt, als Kaposi juristischer Berater einer Gesellschaft mit mehreren Hotels und Spielsälen in Las Vegas und Reno war und in einem spektakulären Prozeß „Big“ Linus Rossi, einen der führenden Mafia-Bosse aus dem Glücksspielgeschäft, erfolgreich verteidigte. Heute gehört Kaposi dem sechsköpfigen Führungskomitee der Transplant Corporation an.

Ein anderes Komiteemitglied ist Carlos Cavuoto, ein ehemaliger nicaraguanischer General, der, wie hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird, nach dem Sturz Somozas mit einem beträchtlichen Kapital in die USA flüchtete. Jahrelang unterhielt er eine straff geführte Söldnertruppe, die in großflächigen Camps in Florida und New Mexico trainierte. Als ein unter seinem Namen registriertes Schnellboot von der Küstenwacht in der Florida Bay aufgebracht wurde, so überraschend, daß die Besatzung gerade einen Teil ihrer Ladung (Kokain aus Kolumbien) über Bord werfen konnte, zog sich Cavuoto aus dem Licht der Öffentlichkeit zurück, bis er dann im obersten Gremium der Transplant Corporation wieder auftauchte.

Von den Komiteemitgliedern Jim Darnell, Brett A.Muller, einem Rechtsanwalt, und Peter J.Dalton, dem ehemaligen Manager einer großen Lebensmittelkette, sind nicht viel mehr als ihre Namen bekannt.

Als letzter im Sextett bleibt Leonard Katzman: Geboren 1944 in New York City, graduiert in der Dublin School in New Hampshire, studiert er Literatur in Harvard, wechselt zur Medizin und bleibt bis zum Ph.D. Anschließend kurze Aufenthalte in Princeton und Syracuse, 1978 Mitarbeiter im Stanford Medical Research Center, wo die erste Herztransplantation in den USA stattfand. Nach der umstrittenen Verpflanzung eines Pavianherzens in ein menschliches Baby heftig von Kollegen und der Presse kritisiert, verläßt Leo Katzman Stanford, wird Vorstandsmitglied der Transplant Corporation. Bruchstücke

Aus dem 'San Antonio Chronicle‘: „Wie wir von unserem Korrespondenten Clark Morris aus Mexico City erfahren, kursieren dort Gerüchte über einen großangelegten Menschenhandel zu medizinischen Zwecken. Im Morgengrauen des 17.Mai sollen mehrere Dutzend schwerbewaffneter Männer eine Slumsiedlung in Tizapan, einem südöstlichen Viertel von Mexico City, überfallen und mehr als dreißig Jugendliche und Kinder entführt haben. Obwohl die örtlichen Behörden diese Meldungen als politische Meinungsmache linksgerichteter Gruppen abtun, hat die Zentralregierung eine Kommission zur Untersuchung der Vorwürfe eingerichtet.“

Lapidare Auskunft der städtischen Wirtschaftsabteilung von Ciudad Juarez zur Rancho Los Rabanos: „Rinderzucht und -verwertung“.

Matty Harrison: „Ja, er hat mir das sofort erzählt. Unter den Tierhäuten waren Menschenschädel, da waren noch Haare dran, und Knochen hat er gefunden, viele Knochen, wissen Sie, von Armen und Beinen und so.“

Frage: „Ihr Mann war Veterinär?“

Matty Harrison: „Ja, wir wohnen schon eine Ewigkeit hier in Samalayuca. Mein Mann war auch zuständig für die Abdeckereien. Und als die Los Rabanos von den neuen Besitzern übernommen wurde, hat er dort die ordnungsgemäße Beseitigung der Schlachtabfälle begutachtet. Gemeldet? Ja, sofort hat er das in Juarez gemeldet. Nichts ist passiert. Und als Jim nachfragen wollte, ist er verunglückt, mit seinem Jeep, wissen Sie. Jetzt haben sie drüben ihren eigenen Veterinär. Na ja, mehr möchte ich nicht sagen.“

Auf mehrmaliges Nachfragen hin, gibt die MEDTECH, Kaliforniens führende Medizinalgerätefirma, zu, im vergangenen Jahr eine komplette chirurgische Station an die MeXsan in Ciudad Juarez geliefert zu haben.

„Die Flüge sind ordnungsgemäß angemeldet. Wir wissen, daß aus Ciudad Juarez frisch gespendete Organe hierher geflogen werden, um dann schnellstens an die Ostküste weitertransportiert zu werden, wo ein Hauptteil der Transplantationen vorgenommen wird. Im übrigen sind wir stolz, daß in El Paso demnächst ein eigenes Transplantationszentrum aufgebaut wird. Wir danken der Transplant Corporation dafür.“ Mitteilung der Gesundheitsbehörde Texas, Sektion El Paso.

Zitat aus dem Jahresbericht der Transplant Corporation:„Wir konnten im vergangenen Geschäftsjahr unser Angebot um 25 Prozent steigern. Ohne die unermüdliche Aufklärung, gerade auch unter den Mitgliedern religiöser Gemeinden, und der ehrenvollen Arbeit unserer Auslandsstation, insbesondere Mexico, wäre dies nicht möglich gewesen. Allen Spendern gilt unser tiefster, aufrichtiger Dank.“ In der Liste aller ausländischen Beteiligungen findet sich unter der Rubrik Mexico: MeXan, Rehabilitationsabteilung in der ehemaligen Rancho Los Rabanos (Ciudad Juarez). Internum

Vielleicht hat das Gespräch am 20.August stattgefunden, vielleicht ein paar Tage früher oder später. Der Ort: Jim Darnells Jagdhaus am Moosehead Lake, Maine. Irgendwann im Laufe des Abends wendet sich Andrew Kaposi an Leonard Katzman: „Cavuoto ist ein Schacherer. Der würde seine ganze Armee verscherbeln, wenn sie ihm nur genug einbrächte. Ich bin Moralist, Leo, und gleichzeitig Realist. Du weißt ebenso wie ich, daß die Konkurrenz gnadenlos ist. Wer nicht liefern kann, der ist raus aus dem Geschäft. Wir haben Verträge, die müssen erfüllt werden. Wir nehmen, wir geben. Wir nehmen Leben, wir geben Leben. Und - haben wir die Differenz bestimmt, sind wir verantwortlich, daß das eine Leben wenig, das andere um so mehr wert ist. Wir sind nur Kaufleute, die ihre Chance sehen, wir machen nicht den Markt, wir nutzen ihn nur aus, die Differenz ist unser Profit. Mehr noch, wir gleichen auch aus, Leo, wir regulieren die Natur, was hätten denn diese halbverhungerten oder verkrüppelten Kreaturen zu erwarten.“

Ich verdiene gut, dachte Katzman, warum auch nicht, mit der dunklen Seite habe ich nichts zu tun, jedes Organ, das ich verpflanze, hat einwandfreie Papiere. Transfer

„Wie er da auf dem Rücken liegt, die Augen geschlossen, rhythmisch atmend, ist R.H. - 1,90 Meter groß, 86 Kilo schwer - ein stattlicher Mann. Gerade noch bewundert man die kraftvollen Konturen seines Körpers, schon ritzen Chirurgen in langen sicheren Schnitten die Haut auf, durchtrennen mit Skalpellen die Muskeln der Brust und des Bauches. Mit einer kleinen elektrischen Säge zerlegen sie das Brustbein so leicht, als sei es aus weichem Balsa-Holz. Überraschend wie wenig Blut fließt. Zunehmend verwirrend wird das Bild im Operationssaal, wenn acht Ärzte ihre Hände und Arme innerhalb des Kadavers bewegen, bemüht, schnell die Organe von den vielen Gefäßverbindungen zu trennen. Rippen und Brusthöhle sind geöffnet, nach auswärts gebogen und die Eingeweide werden mit metallenen Wundhaken zurückgehalten. (...) Ästhetischer anzusehen, ähnelt die Leber einigen glänzenden Seekreaturen, glatt und geschmeidig, mit scharf umrissenen Ecken. Aber durch einen chirurgischen Fehler wird die Leber kontaminiert. Als Resultat verliert sie ihre Seidigkeit und Festigkeit, wechselt von korallenrosa zu fleischmarktpurpur. Die Chirurgen legen das Organ beiseite und mit ihrer Enttäuschung kämpfend, arbeiten sie weiter.

Nach einer weiteren Stunde werden die Nieren (...) mitsamt der Harnleiter, mit denen sie noch verbunden sind, herausgehoben.

R.H.'s Herz beginnt plötzlich einen heftigen Tanz, steigert sich von 100 auf 200 Schläge pro Minute. Die Chirurgen, sofort alarmiert, beruhigen es mit einem Elektroschock (...). Zwei Stunden später wird es ebenfalls entfernt, und man läßt es in eine rostfreie Stahlschale, gefüllt mit einer Salzlösung, gleiten.

Sobald eines der Organe herauskommt, wird es sorgfältig in ein mit Trockeneis gefülltes Igloo Playmate gepackt und schnellstens zu einem wartenden Hubschrauber gebraucht, um einem entfernt gelegenen Transplantationsteam geliefert zu werden. Endlich, nachdem die wichtigsten Organe entnommen sind, weist ein Chirurg (...) den Anästhesisten an, alle lebenswichtigen Leitungen zu unterbrechen und den Respirator abzustellen.„4 Zahlen

8976 Nieren wurden 1986 in den USA transplantiert, berichtet Andrew C.Revkin in der 'Discover‘ vom Februar 19885 und führt auf, daß 10.000 andere Kranke mit schweren Nierenleiden auf Wartelisten stehen, und daß 11.000 neue Fälle jedes Jahr dazukommen. Mehr als 30.000 Dollar pro Jahr kostet ein Patient, der an die künstliche Niere angeschlossen wird, für eine Nierentransplantation rechnet man im ersten Jahr mit 45.000 bis 50.000 Dollar, doch schon im zweiten Jahr sinken die Kosten auf 5000 und in den folgenden Jahren noch unter diesen Betrag. In der BRD verpflanzten die Ärzte 1986 2.000 Organe (darunter 1627 Nieren, 160 Herzen, 109 Lebern)6. In den meisten Fällen werden „respektable Überlebensraten“ erreicht, anders ausgedrückt, vollkommen rehabilitiert wird keiner der Transplantierten.

Ohne Zweifel senken Transplantationen langfristig medizinische Kosten, ohne Zweifel werden Menschen vor dem sicheren Tod gerettet. Ohne Zweifel aber auch gedeihen neue unheimliche Geschäfte. Nachtrag

Nachdem die amerikanische Gesundheitsbehörde begonnen hat, schwerwiegende Vorwürfe gegen die Transplant Company zu überprüfen, schließt diese sämtliche Abteilungen in den USA und verlegt ihren Hauptsitz nach Sao Paulo, Brasilien.

1'The Guardian‘ vom 19.4.88, S.23 und 'The Sunday Times‘ vom 24.4.88, Titelseite.

2 'Bild der Wissenschaft‘, Heft 6/88, S.48-58

3 'Der Spiegel'vom 21.12.87, S.156-165 und 'Konkret‘, Heft 6/88, S.42-45

4 Kathleen Stein in 'OMNI‘, US-Ausgabe, Sept. 1987, S.58ff.

5 'Discover‘, 1988/Feb., S.65-69

6 'Der Spiegel‘ vom 21.12.87, S.156-165