„Was Sozialismus ist, wissen wir nicht“

Über die Zukunft von Perestroika und Prager Frühling diskutierten in Frankfurt altbekannte Leute auf dem Podium mit neuer Sicht der Dinge / Vorwurf an SDS'ler wegen mangelnder Solidarität mit Prager Reformern  ■  Aus Frankfurt Florian Bohnsack

„Gorbatschows Reformzwang ist der späte Sieg der Sozialdemokratie über den Kommunismus“, hallte es vom Podium am Wochenende, und Wolfgang Roth, dem Wirtschaftsspezi der SPD, entwich ein erlöstes Grinsen. Bei der Veranstaltung „Demokratie und Sozialismus - '68-'88 Prager Frühling“ fanden sich in Frankfurt altbekannte Leute auf dem Podium: unter anderen Lew Kopelew, Zdenek Mlynar, Wolfgang Roth, Joschka Fischer, Dany Cohn-Bendit, Gerhard Zwerenz, Tomas Bauer, Jiri Kosta. Neu dagegen war die nach vorn gerichtete Diskussion unter den Exilanten, SDSlern, Grünen und Sozialdemokraten, die um die Zukunft von Sozialismus, Kultur und Ökologie stritten.

Als Dany Cohn-Bendit den versammelten Alt-SDSlern in der Reflexion des Prager Frühlings mangelnde Solidarität Ecke mit den damaligen Reformern in Prag vorwarf, gab es Tumulte im Frankfurter Gewerkschaftshaus. Aus Angst vor Beifall aus der falschen Ecke hätte man sich zurückgehalten: „Die Frage war doch nicht Solidarität, sondern, was mach ich, wenn die Rechten auch demonstrieren?“

Erstaunlich schnell aber wurde die Retrospektive über den Prager Frühling beendet. Zdenek Mlynar, einst ZK-Sekretär der KPTsch unter Dubcek, erwartet nicht, daß sich die Sowjets bei ihrem Reformversuch auf den Prager Frühling beziehen.

Schwieriger schon die Frage des Erfolgs einer Reform in der UdSSR. Denn dort, wo eine Frage beantwortet werde, täten sich 20 weitere auf. So warnte auch Karsten Voigt davor, sich mit Erfolgserwartungen an den sowjetischen Prozeß zu überfrachten. Mlynars Wertung ist da klar: „Der bisherige Erfolg der Perestroika ergibt sich doch eher daraus, daß die Konservativen bislang kein Gegenkonzept entwickelt haben. Dabei bleiben noch viele Fragen offen, die auf der Allunionskonferenz nicht angesprochen wurden.

Klar ist, daß langsam der Druck von unten wachse und den Umbau beschleunige. Doch nicht alles, was von unten kommt, kommt von links. „Wenn es in der Sowjetunion eine Zehn -Millionen-Bewegung gibt, dann heißt die nicht Solidarnosc, dann heißt die mit Sicherheit Pamjat (rechtsradikale Bewegung, d.Red.).“

Neben der Entwicklung zu mehr Demokratie standen die Wirtschaftsreformen zur Diskussion. Jiri Kostas These, man müsse in der Mikroökonomie die Marktwirtschaft zulassen und in der Makroökonomie einen dritten Weg zwischen Markt und Plan finden, stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Lew Kopelew hat dagegen schon den dritten Weg. Er will anknüpfen an die Erfahrungen in der Sowjetunion zwischen 1922 und 1926. „Die Zeit, wo der sowjetische Bauer besser lebte als jemals zuvor.“ Roth dagegen zeigte mit dem Beispiel des Vertrags zwischen Ungarn und der EG, wie weit inzwischen auf der makroökonomischen Ebene der Umbau gehe. „Nach dem jetzigen Zeitplan wird Ungarn 1998 vollen freien Zugang zum EG-Markt haben.“ Die Schwierigkeit liege freilich darin, daß nicht nur in den Beziehungen zwischen den osteuropäischen Staaten ein Gefälle durch eine derartige Öffnung entstehe.

Fest steht, daß die Reformen von einer neuen Linken getragen werden müssen, die sich außerhalb der kommunistischen Parteien entwicklen wird. Hier muß sich die Diskussion in nächster Zeit deutlich weiterentwickeln, denn, so Kosta: „Das stalinistische System muß weg, daß kapitalistische wollen wir nicht und was Sozialismus ist, wissen wir nicht.“