Der große Menschenfresser

■ Eine Nacht in „La Sante“

... Morgen wird er sich für seine Kumpel vom Hofgang eine neue Geschichte ausdenken, in der er dann die Hauptrolle spielt und wieder ein richtiger Mann ist. Jetzt aber heult er erst mal wie ein Kind. Die Gefängnismauern sind solche Geheimnisse gewöhnt. Seit fast einem Jahrhundert sind sie Zeugen von allem Leid hier drinnen.

In der Zelle daneben sitzt ein toller Typ. Claude, einer, der bei jedem Bruch die Knarre dabei hatte. Seit sechs Jahren wartet er auf seinen Prozeß. Er hat mehrere erfolglose Fluchtversuche hinter sich, aus La Sante kann man nicht abhauen, das wollte er überprüfen. Er schläft noch nicht. Wie jeden Abend geht er seine Sache noch einmal durch; er bereitet seine Verteidigung vor. Er spielt Anwalt und muß unweigerlich grinsen, wenn er überlegt, wie er auf die Sprüche des Staatsanwaltes reagieren wird. Er hat immer geklaut, er ist Profi. Auch er ist von seiner Frau verlassen worden, vor drei Jahren. Alles lief ohne Gemeinheiten ab, ganz ordentlich. Keine Frau wartet 20 Jahre auf ihren Typ. Er konnte sie verstehen, hat die Trennung akzeptiert und die Frau in guter Erinnerung behalten. Adieu und viel Glück... das war alles.

Sein Nachbar onaniert. Heute treibt er es mit den Covergirls aus dem 'Playboy‘, die er sich vor dem Lichtlöschen angesehen hat. Sein Schwanz ist so etwas wie das Markenzeichen seiner Branche. Er ist Zuhälter. Jetzt im Moment locken ihm seine fünf Finger fast wie fünf Mätressen ein lustvolles Stöhnen hervor.

An der Tür nebenan hängt ein Schild „Achtung, Selbstmordgefahr! Überwachen! Drogensüchtiger“. Er ist 19 Jahre alt. Der Untersuchungsrichter hat sich als Entziehungskur für ihn eine acht Quadratmeter große Zelle ausgedacht. Nun durchlebt er, seinem künstlichen Paradies entrissen, schreckliche Alpträume. Er hat bereits versucht, sich aufzuhängen. Der Stoff fehlt ihm, aber genauso auch Liebe und Verständnis. Ein Drogensüchtiger ist wie ein Kind, das um Hilfe ruft. Kinder wirft man nicht ins Gefängnis, sie verstehen nicht, wieso. Diesmal hat er es geschafft, noch einmal zuckt sein Körper zusammen und verabschiedet sich vom Gefängnis, dem großen Menschenfresser.

Dem Zuhälter geht gerade einer ab, der andere nebenan stirbt. Vielleicht haben sie gleichzeitig ihren Höhepunkt gehabt mit dem Unterschied, daß der Tod eine treue Geliebte ist, die ihre Liebhaber nicht verläßt. Bald, bei seinem Mitternachtsrundgang, wird der Aufseher vorwurfsvoll „Scheiße“ rufen und schnell seine Vorgesetzten benachrichtigen. Aus Sicherheitsgründen hat er nachts keine Zellenschlüssel. Wieviel Minuten gehen verloren. Diesmal ist es zu spät, wie so oft. Die Sicherheit ist wichtiger als das Leben eines Gefangenen. Aber kann man einen Menschen daran hindern, sich umzubringen? Nein! Also bleiben die Vorschriften erhalten. Morgen wird die Zelle leer sein, keine Spur wird mehr an das nächtliche Drama erinnern. Die Zelle hat den kleinen Drogensüchtigen dann wieder ausgespuckt. Das Gefängnis tötet die Schwachen, und selbst wenn es sie nicht alle ganz zerstört, so prägt es sie dafür immer. La Sante schläft ein. In den anderen Zellen liegen Männer, die hoffen, weinen, darauf scheißen, schnarchen, bedauern, sich einen abwichsen, träumen, sich überlegen denn ein Leben ist das hier nicht...

R.F., Wittlich