„Die Epidemie geht nicht zurück“

■ Günter Heidemann, Zoologe der Uni Kiel und Robbenfachmann, über das Seehundesterben und den Streit um die Ursachen / „Was wir wissen ist, daß die Schadstoffe nicht in die Nordsee gehören“

taz: Es hieß gestern in einigen Medien, daß die Epidemie ihren Höhepunkt überschritten hat.

Günter Heidemann: Die Epidemie geht keineswegs zurück. Der Stand von Sonntag abend waren 647 registrierte tote Seehunde an den Küsten Schleswig-Holsteins. Wir hatten in den letzten Wochen eine zunehmende Tendenz und sehen im Augenblick kein Abklingen. Die Meldung, wonach die Epidemie zurückgeht, ist falsch verstanden worden. Sie betrifft Dänemark, wo nach den Beobachtungen der dortigen Kollegen die Hoffnung besteht, daß das Robbensterben punktuell und in einigen Wochen vielleicht ganz zum Stillstand kommt.

Es wurde anfangs beobachtet, daß vorwiegend junge und schwache Tiere von der Epidemie betroffen sind. Ist dies noch immer so?

Es sind alle Altersklassen und beide Geschlechter betroffen. Der Krankheit erliegen sowohl wenige Tage alte Jungtiere wie sehr alte männliche und weibliche Tiere.

Zur Ursache der Epidemie: Zuletzt war neben dem Herpes -Virus ein zweites Virus entdeckt worden, das die Tiere attackiert.

Die Diskussion um die Ursachen ist sehr verwirrend, weil viele verschiedene Institute unter hohem Druck forschen, und hier wird immer wieder Luft abgelassen in Form von Zwischenergebnissen. Die Diskussion ist sehr unbefriedigend und mit vielen Unsicherheiten behaftet. Es gibt Hinweise auf Viren, andere Veterinäre sehen Parasiten als Mitverursacher, selbst die Todesursache Lungenentzündung wird noch angezweifelt, wie wir jetzt von einem Institut gehört haben.

Die bisher weitgehend akzeptierte Diagnose lautete: vergiftete Nordsee. Die jahrelange Schadstoffbelastung hat das Immunsystem der Tiere vorgeschädigt, so daß sie ein leichtes Opfer der Seuche werden. Die 'Zeit‘ schrieb, daß sich diese These „zunehmend als Spekulation“ erweise.

Es gibt keine Belege, die gegen die Schadstoff-These sprechen. Allerdings kann die Kausalität bisher auch nicht nachgewiesen werden. Wir kennen heute weder das Krankheitsgeschehen noch den Erreger. Deshalb können wir natürlich schon gar nichts über die Verkettung von Schadstoffen und Krankheit sagen. Was wir aber sehr genau wissen ist, daß die Seehunde sehr hoch mit Umweltschadstoffen belastet sind. Wir wissen auch, daß einige dieser Schadstoffe erhebliche Störungen verursachen. In den Niederlanden und Schweden konnte nachgewiesen werden, daß die Fruchtbarkeit der Tiere durch die Schadstoff -Frachten beeinträchtigt ist. Wir wissen bei vielen Stoffen, welche gesundheitsgefährdende Wirkung sie haben, und wir wissen, daß diese Gifte nicht in das Ökosystem Nordsee gehören. Wir sollten diese Epidemie auf jeden Fall zum Anlaß nehmen, die Schadstoffe, die sich in den Robben anreichern, zu minimieren.

Nun sind die Schadstoffe ja schon jahrelang gemessen worden. Warum ist die Epidemie gerade jetzt ausgebrochen?

Darüber können wir wenig sagen. Es wird vermutet, daß hier mehrere Faktoren zusammengekommen sind und ein günstiges Klima für den Ausbruch der Krankheit geschaffen haben. Also: hohe Wassertemperaturen, Schadstoffe und vielleicht ein neuer Erreger. Aber wir wissen es einfach nicht. Wir können auch nicht erklären, weshalb die niederländischen Tiere, die besonders hoch belastet sind, zuletzt von der Seuche betroffen waren.

Man kann sicher nicht auf die definitive wissenschaftliche Erklärung warten, bevor man etwas unternimmt.

Das sollte man nicht. Wir wissen ja auf der anderen Seite genug über die Schädigung des Ökosystems Nordsee. Das muß man abstellen.

Zu den Erklärungsversuchen der Seuche gehörte auch die These, daß der Robbenbestand viel zu groß sei.

Das ist dummes Zeug. Diese Aussage kommt dadurch zustande, daß man den Robbenbestand von heute mit jenem Bestand vergleicht, der durch die Jagd künstlich niedrig gehalten wurde. Bis 1974 wurden in Schleswig-Holstein jährlich 200 Tiere geschossen. Nach dem Jagdverbot haben wir den Bestand wachsen lassen, und er hat seine Grenze noch nicht erreicht.

Sie werden auch heute die toten Tiere einsammeln?

Ja, es geht jetzt in die siebte Woche ohne Feierabend, ohne richtige Wochenenden. Das ist schon zehrend. Lassen Sie mich zum Schluß noch an alle Urlauber, Segler und Wattwanderer appellieren, mehr Rücksicht zu nehmen und die Tiere nicht zu stören. Es ist jetzt eine sehr sensible Zeit. Die Jungen sind zur Welt gebracht worden und müssen aufgezogen werden. Demnächst kommt die kräftezehrende Brunftzeit, und ein Teil der Tiere ist außerdem noch krank. Da sollte man sie nicht noch zusätzlich stören.

Interview: Manfred Kriener