Absolut gleichmäßiges Perlweißgebiß

■ Der neue „Pippi Langstrumpf„-Film ist eine Fälschung

Zugegeben, die Hauptdarstellerin sieht ihr ziemlich ähnlich. Die roten, U-förmigen Zöpfe haben sie ganz gut hingekriegt; die Sommersprossen im viel zu runden Gesicht sitzen auch alle an der richtigen Stelle. Als meine Schwester sechs Jahre alt war, sah sie allerdings genauso aus, - jedes rothaarige Mädchen hat irgendwann so ausgesehen wie Pippi Langstrumpf oder sich das zumindest eingebildet. Das reicht aber noch lange nicht aus, um wirklich so zu sein, wie Pippi ist: Stark, frech, mutig, unbesiegbar.

Der in den USA von Ken Annakin („Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“) gedrehte Streifen „Pippi Langstrumpfs neueste Streiche“ macht dieses Dilemma deutlich: In der ersten Szene geht Pippi über Bord der „Hoppetosse“ und brüllt: „Papa, ich hab Angst!“ Das ist natürlich gleich am Anfang ein riesengroßer Quatsch, weil nämlich die echte Pippi sowas niemals gesagt hat. Im Gegenteil: Selbst bei Windstärke 12 schubste sie ihren jammernden Vater beiseite und übernahm das Steuerrad.

Daß der neue Film eine plumpe Fälschung ist, beweisen die Zähne von Tami Erin, - so heißt die Ami-Pippi. Die alte Pippilotta Viktualia hatte zwei ziemliche Hauer im Oberkiefer, mit denen sie, wenn sie sich ein tolles Spiel ausgedacht hat, auf der Unterlippe herumkaute. Die Neue hat ein absolut gleichmäßiges Perlweiß-Gebiß. Unter den 8.000 Bewerberinnen für die Hauptrolle fand sich wahrscheinlich kein Hasenzahnmädchen, was wohl daran liegen mag, daß die Kids in Amerika spätestens mit zehn Jahren anderthalb Kilo Metall in die Fresse kriegen und ordentlich rangeklammert wird.

Die von Astrid Lindgren erdachten Figuren sind zwar größtenteils dabei, - sie wurden aber verändert. Donnerkarlsson, der alte, sympathische Gauner, spielt jetzt die Rolle eines miesen, warzigen Grundstücksmaklers; und Annika, die ja schon immer ein bißchen ängstlich war, heult nur noch rum. Die Prusseliese - früher die vertrottelte Dame vom Kinderheim - spielt in der „modernen“ Fassung eine rigide Sozialarbeiterin, die in der Kleinstadt Karriere machen will. Alle Charaktere sind zurechtgestutzt, konsumierbar wie Hamburger: Fast Filmfood. Die Details, die allen Menschen in Pippis Umgebung etwas Liebenswertes gaben, sind wegredigiert. Das macht den Film schneller, weil sich die Handlung auf Gags konzentriert und die Szenen sich nicht um die Typen drehen. Spannender und komischer macht ihn das nicht.

In einer Szene werden Tommy, Annika und Pippi sogar von Erwachsenen gerettet, weil sie sonst mit einem Floß einen Wasserfall herunterstürzen würden. Im Buch und im alten Film steckt Pippi in dieser Szene in einer Holztonne, stürzt hinab, landet irgendwo und erlebt fantastische Abenteuer. Annakin hat nichts kapiert: Pippi braucht keine Erwachsenen, sondern Freunde.

Daß die Amis die Handlung in eine amerikanische Kleinstadt verfrachtet haben, ist schließlich der Gipfel der Unverschämtheiten. Annakin hat aus unserem fröhlichen Halbwaisen einen netten Kleinstadt-Teeni mit Superkräften gemacht, selbst vor Coca-Cola product placement schreckt er nicht zurück. Wir sollten ihm die echte Langstrumpf über den Teich schicken, damit er kräftig was auf die Omme kriegt; da kann er zehnmal nach Batman und Clark Kent rufen: Gegen unsere Pippi sind das alles kleine Würstchen.

Claus-Christian Malzahn

Pippi Langstrumpfs neueste Streiche. Regie: Ken Annakin, mit Tami Erin, David Seaman jr., Cory Crow u. a.. USA 1988, 101 Min.