„Jede Flasche hat ihre Geschichte“

Hessen will die Giftmülldeponie Herfa-Neurode erweitern / Für eine Pressekonferenz ging Umweltminister Weimar unter Tage, die taz ging mit  ■  Aus Heringen Michael Blum

„Die Selbstretter sind mit Trockensauerstoff ausgerüstet, sie reichen eine dreiviertel Stunde, bitte wenden Sie sie nur im Notfall an“, erklärt ein Kumpel, bevor er der Hessischen Landespressekonferenz ein herzliches „Glück auf“ wünscht. Das „Glück auf“ tut gut, der Hinweis auf die Selbstretter ist weniger beruhigend. Zu frisch sind noch die Eindrücke von der Bergwerkskatastrophe im hessischen Borken. Mulmig ist es allen KollegInnen, auch der taz-Reporter quält sich die letzten Stufen zum Schachteinstieg.

In schwindelerregender Geschwindigkeit geht es die 704 Meter hinab in den Berg, nach einer guten Minute sind wir unten: Herfa-Neurode, die vermeintlich sicherste Giftmülldeponie der Welt, gilt es zu erkunden.

Heringen, Stadtteil Herfa, im nordhessischen Hersfeld -Rotenburg. Zonenrandgebiet, wenig Verkehr, das 9.000 Einwohner zählende Städtchen wirkt akkurat und aufgeräumt. An den Bergen entlang der versalzenen Werra stirbt der Wald, schon von weitem sind die Wahrzeichen zu erkennen: Schachtanlagen und riesige Kalisalzhalden. Der Bergbau ist hier der größte Arbeitgeber. 3.500 Menschen im Kreis arbeiten unter Tage. Die Arbeitslosenquote liegt mit 7,4 Prozent weit unter den vergleichbaren Landkreisen in Nord und Osthessen.

War es während der Einfahrt noch kalt und windig, treffen wir unten auf 28 Grad Celsius. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei nur 35 Promille, es riecht und schmeckt nach Salz. Seit mehr als achtzig Jahren wird im Grubenfeld des Werkes Wintershall Kalisalz gewonnen; 30 Tonnen Rohsalz am Tage, mehr als acht Millionen im Jahr. Beim Abbau dieser Bestände entstehen Hohlräume, jährlich drei Millionen Kubikmeter, die seit 1972 als Giftmülldeponie Herfa-Neurode genutzt werden.

„Das sieht fast aus wie in einem Atombunker, nein, wie in einem Science-fiction-Roman“, entfährt es Weimar, als wir die ersten Meter unter Tage begehen. Knappe drei Meter ist der Stollen hoch, gute 14 Meter breit. Als Lichtquelle dienen die Scheinwerfer der Transportfahrzeuge. Hier und da sind einzelne Verkehrsschilder zu erkennen, sie sollen das Verkehrsaufkommen 700 Meter unter Tage regeln. „Stopp, Einbahnstraße, Vorfahrt achten“ - das Bergwerk verfügt über ein 300 Kilometer langes Wegenetz, die Deponie über 20 Kilometer.

Für den Betrieb der Untertage-Deponie sind seit ihrer Genehmigung durch das Bergamt mehrere Voraussetzungen zu erfüllen: Es muß sich bei den Einlagerflächen um stillgelegte und abgebaute Grubenfelder handeln, die Einlagerungsfelder müssen gegenüber der Salzgewinnung abzuschotten sein, die Hohlräume müssen offenbleiben können, standfest, trocken und zudem absolut wasserfrei sein. Die Geologie der Werralagerstätte tut ein übriges: In Jahrtausenden haben sich vier wassersperrende Tonschichten aufgeschoben, mehr als 100 Meter mächtig. Macht man sich Weimars Sicherheitsphilosophie zu eigen - er will bei der Giftmülldeponie Mainhausen schon ganze 150 Zentimeter Ton als sicher anerkennen - so ist Herfa-Neurode tatsächlich für etwaige Unfälle gut gerüstet.

Die aber soll es hier ohnehin nicht geben. Norbert Deisenroth, sonnengebräunt und langjähriger Betriebsleiter und heute in der Hauptverwaltung der Kali und Salz AG in Kassel tätig, ist sich da ganz sicher: „Ein Brand hier wäre der GAU schlechthin.“ Doch einen solchen GAU könne es hier gar nicht geben. Der sei nämlich durch die einzulagernden Stoffe so gut wie ausgeschlossen. Explosive und selbstentzündliche Stoffe dürfen nicht eingefahren werden. Einzulagernde Stoffe dürfen nicht ausgasen und müssen fest verpackt sein, in Fässern oder in Containern. Radioaktive Abfälle müssen genauso draußen bleiben wie solche, die volumenvergrößernd sind. In der Deponie Herfa-Neurode lagern deshalb „nur“ chlorierte Kohlenwasserstoffe jeder Art, Arsen, Quecksilber, Galvanik-, Filtrations-, Eindampf-, Destillations- und Klärfilterrückstände, Teere, Pflanzenschutzmittel, Trafos, Trockenstoffe wie Batterien, einbetonierte Rückstände, Farbstoffe und Filterstäube aus Haus- und Sondermüllverbrennungsanlagen. Letztere sind derzeit auch Hauptlieferant des Giftmülls: Rund 40 Prozent der Abfälle kommen von Verbrennungsanlagen, 30 Prozent aus der metallverarbeitenden Industrie direkt, Trafos und Kondensatoren machen vier Prozent aus, auf sonstige Abfälle enfällt ein Promille.

Seit Inbetriebnahme der Deponie sind 650.000 Tonnen Giftmüll unter Tage gewandert, die Jahreskapazität liegt derzeit bei 120.000 Tonnen. Die Hälfte der Abfälle kam 1987 aus Hessen, ein Drittel aus anderen Bundesländern und 10.000 Tonnen aus dem westeuropäischen Ausland.

285,-DM kostet derzeit die Einbringung einer Tonne. Nach dem Willen Weimars sollen die Preise in zwei Jahren merklich anziehen.

Spätestens in zwei Jahren nämlich will das Land die Deponie mehrheitlich übernehmen: In einer neu zu gründenden Gesellschaft wird das Land Hessen 51 Prozent, die bisherigen Betreiber Kali und Salz nur noch 25 Prozent und die Hessische Industriemüll GmbH 24 Prozent halten - an letzterer ist das Land ebenfalls mit 30 Prozent beteiligt. Die Jahresmenge an eingelagertem Giftmüll wird sich auf 240.000 Tonnen verdoppeln. Die derzeit für rund eine Million Tonnen Giftmüll taugenden Kavernen sollen erweitert werden.

Die roten Gabelstapler nehmen die Giftmüllbehälter unter Tage von speziellen LKWs ab. Die gelben Spezialfahrzeuge sind mit abgasarmen Dieselmotoren ausgestattet und sehen aus, als kämen sie aus der Schrottpresse: Sie sind tiefergelegt, die Fahrerhäuser in Kopfhöhe abgeschnitten. Die teilweise dreißig Jahre alten Transporter fahren die blauen, grünen und braunen, schwarzen und roten Fässer und Container in die jeweiligen Einlagerungskavernen. Die Farben der Behälter entsprechen den Firmenfarben der Giftmüllerzeuger, über den Inhalt gibt ein kleiner Zettel Aufschluß. Nach Stoffarten getrennt wird der Giftmüll auf Paletten gelagert. War die Luft bislang extrem trocken und salzig, ändert sich das mit Ankunft im „Proberaum“. Hier stinkt es wie in einem Chemielabor. Zigtausende von kleinen Flaschen sind akkurat nach Einlagerungsdatum geordnet und aneinandergereiht. Degussa, Ciba-Geigy, Hoechst, Bayer und BASF - alles, was in der Chemiebranche einen „Ruf“ hat, ist hier vertreten. In den Flaschen sind minimale Rückstände der eingelagerten Stoffe enthalten - die Rückstellproben werden erst seit 1978 genommen, früher wurde unkontrolliert auf Treu und Glauben eingelagert. „Jede Flasche hat ihre Geschichte“, erklärt Weimar, und jährlich kommen zweitausend neue hinzu.

Die Rückfahrt geht schneller, zumindest im Gefühl. Erleichterung macht sich breit, als wir Schutzanzüge und Lebensretter wieder abgeben können. Das „Glück auf“ wird diesmal nicht obligatorisch, sondern erleichtert erwidert.