Novemberastrologie

■ Wahlwahrsagerei und Zockermathematik im amerikanischen Wahlkampf

Reed Stillwater

Amerika ist eine Demokratie, und das heißt, daß das Volk herrscht und seinen politischen Willen vermittels der Wahl seiner Repräsentanten ausdrückt. Dieses Jahr erlebt die Welt wieder das atemberaubende Schauspiel einer solchen Wahl: Das Feld der Bewerber um Amerikas höchstes Amt hat sich gelichtet, zwei Kandidaten sind übriggeblieben und stehen sich gegenüber. Jetzt, so sollte man meinen, kann alles seinen demokratischen Gang gehen: Die Kandidaten stellen sich und ihre Positionen der Öffentlichkeit vor, versuchen, die Herzen, Köpfe und vor allem die Stimmen des Volkes im November zu gewinnen, und dann hat Amerika wieder seinen Willen und einen Präsidenten.

Aus irgendeinem Grund wollen die Menschen aber den Ausgang wichtiger Ereignisse immer schon vorher wissen. Diese Neugier bildet die Grundlage einer ausgeklügelten Wissenschat: der Wahlprognose, und die stützt sich ihrerseits wieder auf eine wichtige Institution, die Meinungsumfrage. Meinungsumfragen gehören inzwischen zur politischen Kultur von Demokratien, nicht nur der amerikanischen. Ihr Sinn ist es nicht nur, den Wahlausgang vorher zu erkennen, sondern ihn auch zu beeinflussen. Meinungsumfragen werden von eigens dafür geschaffenen Unternehmen gemacht, das bekannteste seiner Art in den USA ist der Gallup Poll. Bekanntgemacht werden die Ergebnisse durch die Presse. Mit den Ergebnissen solcher Umfragen gehen Leitartikler, Politiker und Bürger um. Die Ergebnisse sind dynamisch, verändern sich gerade durch ihre Erhebung.

Während die Meinungsumfrage aber gleichsam eine demokratische Institution ist - sie spürt der Meinung des Volkes nach und bildet diese (wenn auch oft tendenziös) ab -, kennt die amerikanische öffentliche Meinung einen weiteren beeinflussenden Faktor, der in der Form in anderen Demokratien nicht seines gleichen hat oder doch nur sehr unvollkommen nachgebildet ist, und deren Aufgabe es auch nicht ist, den Willen des Wählers zu ergründen, sondern Gesetzmäßigkeiten für Wahlausgänge aufzustellen: eine Wahlprognose ganz eigener Art, die sich auf eine Geheimwissenschaft stützt und Ähnlichkeiten mit den Methoden der Glücksspieler hat, die der Abfolge von Zufällen Regelhaftigkeit abgewinnen wollen, kurz eine Zockermathematik.

Einige dieser auf dem Prinzip der Serienbildung beruhenden Gesetzmäßigkeiten, die amerikanische Wahlausgänge und amerikanisches Wahlverhalten bestimmen, sind inzwischen auch in Europa bekannt und werden von hiesigen Leitartiklern gern angeführt. So wissen heute die meisten Zeitungsleser in Europa nicht nur, was Vorwahlen sind, sondern auch, daß in den letzten 50 Jahren keiner in den USA Präsident geworden ist, der nicht die Vorwahlen in New Hampshire gewonnen hat. Nun haben ja Bush und Dukakis beide diese Primaries für sich entscheiden können, so daß diese Regel weiter an Unumstößlichkeiten gewinnen wird, egal wer von den beiden Präsident wird. Hätte Bush diese Vorwahlen verloren und wäre trotzdem nominiert worden, dann hätten wir jetzt immerhin einen Anhaltspunkt dafür, wer Präsident werden würde, wir wüßten, daß seine Chancen um vieles schlechter stünden als die seines Gegners Dukakis. Wie stehen denn die Chancen?

Zur Zeit liegt Dukakis in den Meinungsumfragen weit vorne und führt mit bis zu 16 Punkten Vorsprung. Doch das will nichts heißen. Amerikanische Wahrsager belehren uns, daß es sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat, daß wer zu früh (im Juni oder Juli) führt, im November verlieren kann. Amerikanische Wähler neigen dazu, den „underdog“ zu favorisieren, und der Underdog-Status ist unter Kandidaten sehr beliebt.

Es gibt eine weitere historische Zahlenspielerei, die inzwischen auch in Europa wohlfeil ist, keiner großen Amerika-Kenntnisse bedarf und scheinbar leicht auszulegen ist: Von den letzten fünf Präsidentschaftswahlen haben die Demokraten mit Jimmy Carter nur eine gewonnen (5:12 für die Republikaner), und da Jimmy Carter allgemein als Flop gilt, scheinen die Demokraten noch chancenloser dazustehen.

Einige amerikanische Wahrsager haben aus diesem Sieg -Niederlage-Verhältnis bei den Präsidentschaftswahlen der letzten Zeit schon einen säkularen Trend herauszulesen versucht, vor allem dann, wenn man die CongressWahlergebnisse dazunimmt: So notorisch nämlich die Republikaner das Weiße Haus zu gewinnen scheinen, so fest sitzen die Demokraten im Repräsentantenhaus, in dem sie seit 34 Jahren eine scheinbar unbezwingbare Mehrheit haben; es scheint also, als neigten die Amerikaner dazu, die Präsidentschaft den Republikanern und in einem sicheren Instinkt für politisch ausgewogene Machtverteilung die Legislative den Demokraten anzuvertrauen. Ein wahrhaft weises Volk, diese Yankees.

Die vielen Siege der Republikaner in den vergangenen Präsidentenwahlen stellen in der Tat ein Handikap für den demokratischen Bewerber dar, wie ein einfaches Rechenexempel schnell demonstriert. 1980 und 1984 erhielten die demokratischen Herausforderer und Bewerber um das Präsidentenamt jeweils knapp 41 Prozent der Stimmen. Um also auch nur knapp vor Bush zu siegen, müßte Dukakis sich einen Stimmenzuwachs von runden zehn Prozent gegenüber dem Stimmenanteil der Demokraten in den letzten beiden Wahlen zulegen. Und das, so belehren uns die Wahrsager, haben seit dem Zweiten Weltkrieg nur zwei Herausforderer geschafft: 1952 gewann Eisenhower ein Plus von genau zehn Prozent für seine Partei, und 1976 gewann Jimmy Carter sogar einen Stimmenzuwachs von zwölfeinhalb Prozent gegenüber McGovern vier Jahre vorher. Also schlechte Chancen für Dukakis? Doch warum sollte Dukakis nicht fertigbringen, was Carter geschafft hat?

Der Vergleich mit Carter ist ein schlechtes Vorzeichen, belehren uns die Wahlwahrsager. Dabei spielt die Tatsache, daß Carters Präsidentschaft allgemein als nicht so erfolgreich eingeschätzt wird, nicht die einzige Rolle. Entscheidend ist, daß Wahl und Abwahl Carters sich zu einer Gesetzmäßigkeit ausdeuten lassen.

Eine weitere Untersuchung vergangener Wahlverhaltensmuster lehrt nämlich, daß die Amerikaner selten die Präsidentschaft einem Mann anvertrauen, der ein Jahr vor der Wahl im nationalen Rahmen noch weitgehend unbekannt war. Nun favorisiert zwar das amerikanische Wahlsystem bei der Präsidentenwahl den Außenseiter. Anders als bei der parlamentarischen Demokratie europäischer Prägung, bei der der Ministerpräsident, Kanzler oder Premierminister die politische Ochsentour durch Parteihierarchie und die politischen Instanzen machen muß, kann bei der amerikanischen Präsidialdemokratie theoretisch jeder zum Rennen antreten, der genügend Selbst- und Sendungsbewußtsein, Traute, Puste, Überzeugungskraft, Geld und Backing hat. In gewisser Weise waren alle amerikanischen Präsidenten der letzten Zeit Außenseiter mit Ausnahme von Johnson und Nixon, die politische Routiniers waren. Doch es gibt Außenseiter und Außenseiter. Eisenhower und Reagan waren durchaus Außenseiter, alles andere als erfahrene Politiker, doch sie waren „nation wide“ bekannt. Und hier setzen die Wahrsager an. Denn das letzte Mal, daß die Amerikaner einen weitgehend unbekannten Außenseiter zum Präsidenten wählten, da waren sie mit ihrer Wahl unzufrieden und wählten den Mann, Carter hieß er, beim nächsten Mal wieder ab.

Eine Besonderheit des amerikanischen Wahlsystems schafft einen breiten Raum für Zahlenkombinationen und Deutungen. Der amerikanische Präsident wird ja nicht vom Volk gewählt (wie oft selbst in Amerika mißverständlich angenommen wird), sondern vom Wahlmännerkollegium, das seinerseits in einer meist wenig beachteten Zeremonie im Dezember den Präsidenten wählt. Was der Wähler wählt, sind Wahlmänner, und zwar pro Staat soviele, wie der gleiche Staat an Repräsentanten und Senatoren in die beiden Häuser des Congresses entsendet, das sind insgesamt 558. Um Präsident zu werden, braucht der Kandidat alo nicht unbedingt die Mehrheit der Stimmen der Wähler, sondern die der Wahlmänner, und das wären 270.

Nun gibt es in den Vereinigten Staaten, ähnlich wie in der Bundesrepublik, Regionen, die traditionell in der Hand der einen oder anderen Partei sind. Das Problem der Demokraten beginnt im Süden und im Westen. Ein Staat wie Florida, der 21 Wahlmänner entsendet, hat seit 1952 erst zweimal demokratisch gewählt und gilt als fast unwiederbringlich republikanisch. Texas ist zwar eigentlich eine demokratische Hochburg, hat immerhin viermal demokratisch gewählt, bei drei dieser Wahlen aber stand der Texaner Johnson entweder selber zur Wahl oder engagierte sich für seinen ehemaligen Vize Humphrey. Da Bush aber vor 20 Jahren selber nach Texas gezogen ist (eher des Öls als der 29 Wahlmänner wegen), kommt er heute in den Genuß des sogenannten „favorite son„ -Status, und wird wahrscheinlich diese 29 Wahlmänner für sich gewinnen. Kalifornien ist eigentlich auch ein traditionell demokratischer Staat, aber die Republikaner profitieren von der explosionsartigen Suburbanisierung der städtischen Zentren, und Suburbia wählt immer konservativ. Kalifornien hat 49 Wahlmänner zu bestimmen. Diese drei Megastaaten allein stellen also 92 Wahlmännerstimmen und damit ein Drittel der benötigten Mehrheit von 270.

Nimmt man den Süden insgesamt, so ermißt man seine Bedeutung an den drei demokratischen Siegen der letzten neun Präsidentschaftswahlen: Kennedy und Johnson gewannen jeder sechs, Carter zehn der elf Südstaaten. In allen anderen Fällen ging dieser Staatenblock ziemlich geschlossen an die Republikaner. Sollten die Demokraten den größten Teil des Südens und des Westens als uneinnehmbar abschreiben, müßten sie so gut wie jeden Staat nördlich der Mason-Dixon-Linie (die amerikanische Mainlinie) und westlich des Mississippi gewinnen plus möglichst einen der Megastaaten wie Kalifornien oder Texas; das hieße, sie müßten Staaten wie Illinois, Ohio, Michigan, Indiana und New Jersey gewinnen. Die Wahlwahrsager aber belehren uns, daß seit 1952 Ohio und Illinois nur zweimal, New Jersey zwar dreimal, Indiana dafür aber nur einmal demokratisch gewählt haben, und daß solche demokratischen Hochburgen wie New York und Pennsylvania viermal republikanisch gewählt haben.

Und dann gibt es noch den Royalitätsfaktor. Am Montag, dem 4.Juli1988, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem Tag, an dem Amerika sich von der britischen Krone lossagte, veröffentlichte Brooks Peerage, ein britisches Adelsregister, seine Untersuchungen zur Ahnenforschung des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Bush. Bushs Stammbaum läßt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen und ist weitverzweigt. So ist Bush der 13. Cousin der Königin Elisabeth II. von England und damit mit allen Mitgliedern der ihrerseits weitverzweigten königlichen englischen Familie verwandt. „Na und?“ könnte man sagen. Doch der amerikanische Verleger des Brooks Peerage, Harold Brooks-Baker, belehrt uns, daß der Royalitätsfaktor bei amerikanischen Wahlen eine wichtige Rolle spielt: Von den 40 Präsidenten der Vereinigten Staaten waren 13, also etwa ein Drittel, königlichen Geblüts. George Washington, John Quincy Adams und Thomas Jefferson waren mit König Edward I. verwandt, Theodor und Franklin D. Roosevelt waren Nachfahren niederländischer Adelsfamilien, Jimmy Carter kann seine Herkunft aus schottischem Adel belegen, und Ronald Reagan ist ein direkter Nachfahre des irischen Großkönigs Brian Boru, der im 11. Jahrhundert herrschte. Die Häufigkeit, mit der blaues Blut seinen Weg ins Weiße Haus findet, steht in keinem Verhältnis zum Anteil der Adelsnachkommenschaft an der Gesamtbevölkerung Amerikas, der auf etwa fünf Prozent geschätzt wird. Legt man die Statistiken zugrunde, hat Bush eine etwa fünfmal höhere Chance, ins Weiße Haus gewählt zu werden, als sein Rivale Dukakis, von dem nicht bekannt ist, daß er in irgendeiner Weise mit einem europäischen Königshaus verwandt wäre.

Und dann gibt es schließlich noch den Korruptionszyklus. Die Ära Reagan ist inzwischen skandalumwittert: die Pentagonaffäre, die Iran-Contra-Affäre, die Korruptionsfälle Ed Meese und Michael Deaver, die beide wahrscheinlich vor Gericht landen werden, ebenso wie der ehemalige Stabschef und der ehemalige Sicherheitsberater im Weißen Haus. Nun führen Skandale nicht unmittelbar zur Abwahl von Präsidenten, wie der Fall Nixon lehrt. Der Watergate-Skandal war schon weitgehend aufgedeckt, als Nixon mit einem historischen Erdrutschsieg 1972 wiedergewählt wurde, und der Schock des Watergate-Skandals war auch nicht so nachhaltig, als daß es nicht kurz danach zu einer weiteren republikanischen Ära, der Ära Reagan, kommen konnte. Die Geschichte aber lehrt, daß, wenn eine Partei zu lange am Ruder sitzt, sich das vage Gefühl breit macht, daß es nun aber genug ist mit Filz und Selbstbedienung und daß es Zeit ist für einen Wechsel. Präzedenzfall ist die Wahl Eisenhowers 1952. Nach 20jähriger Herrschaft der Demokraten im Weißen Haus hatten sich genug Skandale und Skandälchen angesammelt, um den Republikanern ihren stärksten Slogan „Time for a change“ zu bescheren. Was für das Weiße Haus gilt, gilt natürlich umgekehrt auch für das Repräsentantenhaus, in dem die Demokraten seit über 30 Jahren unangefochten die Mehrheit behaupten. Auch das Haus hat seine Skandale, wie die Einsetzung eines Sonderstaatsanwaltes zur Untersuchung der Geschäfte des Vorsitzenden, des „House Speakers“ Jim Wright, beweist. 34 Jahre Herrschaft hat die Repräsentanten der Mehrheitsfraktion arrogant und unsensibel gemacht. Sollte sich also der Kurruptionszyklus durchsetzen, dann kämen dieses Jahr die Demokraten ins Weiße Haus und die Republikaner würden die Mehrheitsfraktion im Repräsentantenhaus stellen.

In Amerika sind anders als in Europa Wahlergebnisse außerordentlich schwer vorauszusagen. Von den letzten neun Präsidentschaftswahlen waren nur drei schon entschieden, noch bevor sie angefangen hatten: die Wahlsiege Johnsons gegen Goldwater, Nixons gegen McGovern und Reagans gegen Mondale waren überwältigend und standen von vornherein fest, alle anderen Wahlergebnisse waren sogenannte Kopf-an-Kopf -Rennen, von denen einige so knapp ausfielen, daß man in Amerika schon von Zufallswahlen sprach. Der Wahlkampf Dukakis gegen Bush gehört nicht in die Kategorie der schon entschiedenen Rennen; wer Sieger wird, ist völlig ungewiß.

Amerikanische Wahlkämpfe sind unberechenbar und haben ein irrationales Moment, und ihre Ergebnisse haben etwas von einem Glückstreffer, sie folgen der Logik der Glücks beziehungsweise Pechsträne, und das - wenn nichts anderes lehrt die Wahlwahrsagerei, und das ist immerhin eine nützliche Lehre.