Gute Erde

■ An der Mauer in Kreuzberg hat Mustafa Akyol sein Tuwat-Dreieck für sein Gemüse besetzt

Das Betonband der Mauer hinter der Kirche am Mariannenplatz ist ebenso bunt bemalt und zugleich öde wie anderenorts in Berlin. Der Streifen vor der Mauer, noch zu Ost-Berlin gehörend, wird seit jeher als Abladeplatz für Müll aller Art genutzt. „Rettet die Ozonschicht“ hat eine unbekannte Hand hier unter die Mauerkrone gesprüht. Seit diesem Frühling aber sieht man vom Beton und seiner Bemalung wenig. Dafür gibt es auf dem von zwei jäh beendeten Straßen gebildeten Dreieck das üppige Grün eines Gemüsegartens zu bewundern. Kartoffeln wachsen auf den knapp 200 Quadratmetern und Mais, Kürbis, Kohlrabi, Bohnen und Sonnenblumen; selbst Erdbeeren.

Mustafa Akyol ist seit 15 Jahren in Berlin. Seit drei Jahren wohnt der 43jährige mit seiner Familie am Bethaniendamm direkt an der Mauer, die hier fünf Meter vor der Haustür die Straße zerschneidet. Der Blick aus dem Fenster der Wohnung zeigt den sandigen Todestreifen in seiner ganzen leblosen Ödnis. Seine Handbewegung weist hinaus auf dieses brache Land, als ich nach seinen Motiven frage.

„Wir lieben die Natur“, sagt der als Zimmmermann auf dem Bau arbeitende Akyol, der aus der östlichen Türkei kommt. Deswegen habe er im Februar, als der Boden noch winterhart und schneebedeckt war, einfach angefangen, dieses kleine Dreieck zu beackern. Die Ecke sei verdreckt gewesen, Leute hätten dort ihren Ölwechsel gemacht und aufgegebenen Hausrat abgeladen. Zwei Wochen habe er gearbeitet, Steine und Müll abgefahren, um an das Erdreich zu kommen. „Dann habe ich gesehen, gute Erde“.

Probleme gab's keine. Nur einmal habe ein DDR-Offizier mit zwei Soldaten erkundigt, was er dort treibe. Geländearbeiten und Bäume hätten sie untersagt, aber gegen Gemüse nichts gehabt. Wartet zwei Monate, wenn dann nichts wächst, könnt ihr's wegmachen, habe er denen geantwortet.

Seitdem schießt das Grün im Schatten der Mauer hoch. Nur einmal habe sich ein Vopo mit einer Kamera über die Mauer gebeugt und Fotos gemacht. „Wer es sieht, findet es gut“, sagt Herr Akyol und zeigt stolz seine Kürbisse. Über den derzeitigen Regen ist er froh, weil er sonst das Wasser heranschleppen müßte.

Nicht die Ernte, sondern die Freude am Wachsen ist sein Antrieb. „Ein Mensch lebt nicht lange und muß sich deswegen bewegen, was tun“, versucht er bei einer Tasse Tee sein Handeln in Einklang mit dörflicher Erfahrung und seiner mohammedanischen Religion zu beschreiben. Während des Gesprächs sitzen die Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen still daneben, die Mädchen füllen immmer wieder die Teetassen auf und bringen Gebäck. Vor dem Fernseher hängt eine Gardine, und die Wänden zieren ein halbes Dutzend achteckige Embleme mit den schmuckvoll ausgestalteten Namen der Propheten.

Am Wochenende sitzen die Familie und Freunde auf dem Rasen, grillen und trinken Tee. „Was sollen wir am Kudamm Kaffee trinken?“, fragt er. In der Woche arbeitet er jeden Tag nach der Arbeit im Gärtchen, tagsüber auch seine Frau. Versorgen muß er auch die Gemüsebeete im Vorgarten des Gemeindehauses der Thomas-Gemeinde.

„Unmensch“, schimpft er, als er eine neu abgestellte Auto -Batterie entdeckt. Mit Sonnenblumen und kleinen Ästen hat er den Rand der Gemüsebeete befestigt, um die Hunde abzuhalten. Für Menschen ist das kein Hindernis. Letztes Wochenende haben ihm Unbekannte die reifen Bohnen geklaut. Herr Akyol nimmt es gelassen. Denen, die etwas wollen, denen gibt er ab, versichert er. Sein Nachbar, ein alter Mann, bekommt die Kartoffeln.

Neid auf seine Idee, seinen Garten? Ja den hat er schon verspürt, das ließe sich nicht vermeiden. Und während er den Mais begutachtet, sitzen nebenan auf dem Mauer -Beobachtungsstand zwei Punks und beschallen mit ihrem Radio das Tuwat-Dreieck.

Gerd Nowakowski