Einmal wird doch alles gut

■ „Die Geschichte der Empfindlichkeit“ - die Stadt Hamburg kauft Hubert Fichtes Nachlaß

Nikolaus Tiling

Ein scheidender Staatsrat der Hamburger Kulturbehörde machte möglich, was der zuständige Senator Ingo von Münch nicht zusichern konnte: 300.000 Mark für den Nachlaß Hubert Fichtes, zahlbar an eine Stiftung, deren veto-berechtigtes Vorstandsmitglied die Erbin des 1986 verstorbenen Schriftstellers ist. Antwort auf die Frage nach den kulturpolitischen Realitäten muß der Umgang mit dem hinterlassenen Werk und diesem Geld aus notorisch leeren Kassen geben.

Hummer und Kaviar. Champagner und Trüffeln?!

„Njam, njam...

Schmatzend vor Andacht.“

Reich gedeckt steht der Tisch: 13 veröffentlichte Bücher Romane und Erzählungen -, rund einhundert Rundfunkarbeiten Hörspiele und Features -, Zeitungsartikel, Interviews.

Der S.Fischer Verlag sorgt seit Herbst '87 für Nachschub. Die ersten vier Bücher aus der Edition des 17bändigen Roman -Glossenwerkes „Die Geschichte der Empfindlichkeit“ sind präsentiert und hochdotierte Gourmets der Literaturkritik stocherten hier und dort hinein. Ratlosigkeit und Irritation der Geschmacksnerven provozierten eher die Lust, den Autor zu schlachten, als seine Kompositionen zu verdauen.

Rülpser.

Gefräßige Ruhe.

300.000 Mark. Soll das Werk jetzt eingekellert werden? „Njam, njam, bist du denn noch nicht bald fertig, jawohl, Fresse!“ (Fichte). Viel Geld aus öffentlichen Mitteln.

Halt's Maul jetzt gerade nicht.

Keine Worte mehr, keine mehr sagen, keine mehr denken, keine mehr schreiben, war für Fichte Todesphantasie. Mund zu hieß auch: keine Zärtlichkeiten, kein Sex, kein bittersüßer Geschmack. Nichts.

Der Zerstörung der Bombenangriffe entronnen und getroffen von der eigenen Homosexualität, mobilisierte er alle Sinne, arbeitete an der Sprache als einem Mittel des Ausdrucks, der Selbstvernichtung. Das Schreiben wurde zum Experimentierfeld. Die Fragen Was ist das hier? Was ist mir möglich? hetzten los in die Realität der Schwulenverachtung, der ungebrochenen Tradition der Minderheitenbildung und Verfolgung.

Von den Reisen durch Europa, Afrika, schließlich Südamerika blieben Features, Interviews, Berichte über Psychiatrie, Riten, Sexualität, über Ausbeutung und Unterdrückung in Brasilien, Chile, Haiti.

Aus der Distanz des Reporters, des ethnologischen Forschers, trat Fichte immer wieder hinaus, suchte begierig. Nach Worten.

Zerlegt und komprimiert bis auf Bruchstücke die Sprache für Zusammenhänge und Kollisionen individueller Emfindungen und sozialer Realität. Wörter zeigen ihre Schutzfunktion als Werkzeuge der Benennung gegenüber der Verlockung des Eintauchens in eine andere, fremde Kultur/Welt. Bei aller Intensität der Beobachtung markiert dies seine Grenze zum Realen: Wo Berührungen der Lust ihn selbst zum Teil der Geschehnisse werden läßt, die Souveränität des Schriftstellers über seine Geschichtsschreibung bedroht und der Autor als soziale Funktion des eigenen Daseins in Frage gestellt wird, verläuft die selbstgeschaffene Demarkationslinie.

Um so mehr fährt er in seinen Büchern immer wieder die Gefahrenzonen von Sex und Gewalt, Geburt und Tod, Liebe und Freiheit ab, in denen die kulturelle Sortimentierung aufgemischt wird und triumphiert dort als Autor. Ausladende Metaphern haben da wenig Platz, Adjektive und Adverbien stehen nur spärlich zur Verfügung. Wo die Realität von vielfältigen Zerstörungen gezeichnet ist, ist die Zerstörung der Sprache nahe Antwort auf das drohende Desaster: der ästhetisierende Artefakt.

Bis zu seinem Tod arbeitete Fichte an seinen Themen und Ausdrucksmöglichkeiten. Von einem Arbeitsplan für ein 19bändiges Gesamtwerk, das komplett herausgegeben werden sollte, blieben zwölf: „Die Geschichte der Empfindlichkeit“.

Hätte nicht Marcel Proust seinen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ betitelt, es wäre Fichtes Überschrift gewesen. Ein „roman delta“ soll es immerhin sein. Eine Recherche allemal.

Sie umfaßt rückblickend all jene Experimente, die Fichte selbst unternahm, oder die er stellvertretend an seinen Romanfiguren Detlev, Jäcki, Hubert, Ich durchführte. Um den Brennpunkt der Homo/Bi-Sexualität, die Bewegung des ständigen Aufbruchs, die Figur der Mutter, Das Fremde, Das Begehren, Erfahrung, Das Altern, Die Suche.

Die Freilassung aller Wünsche, die hinter dieser Suche stehen, scheint der banale Satz aus dem ursprünglich als Band XVII bezeichneten Roman „Die Geschichte der Nana“: „Einmal wird doch alles gut.“

Demgegenüber steht das „Nie mehr“, eine Feststellung vier Jahre vor seinem Tod. Das „Alles“ im Kosmos der Selbstreflexion ist der Denker selbst. Und die Antwort auf das ewig Hoffnungslose: „Jetzt wollte er alles beschreiben.“

Die Inszenierung der Suche nach dem brillanten Autor beginnt als niedergeschriebene (Re)Konstruktion von Erlebnissen in den beiden jetzt vorliegenden Romanen „Hotel Garni“ und „Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs“.

Ein Hotel. Durchgangsstation. Ein Zimmer. Szene für die Vorstellung der Hauptfigur Jäcki. Fokussiert auf Sexualität und Liebe erzählt er seine Vorgeschichte bis zum Zeitpunkt des Kennenlernens seiner Lebensgefährtin Irma:

Nachkriegszeit. Jäcki haut ab von zu Hause, das ist Oma, Opa, Mutti, Lokstedt. Nach Frankreich. Dann Landwirtschaftslehre in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, Arbeit in Schweden. Flucht zurück nach Frankreich. Immer wieder kurze Verhältnisse mit Männern. „Ich bin der landlose Schwule, der fruchtlose, die Lustpartei, der im Kataster keine Spur hinterläßt.“

Dann die Nahtstelle. Der schwule Mann begehrt diese Frau.

Dafür gibt es keine Vergleichserfahrungen. Die Mutter nicht, die Großmutter nicht, die schwedische Heimleiterin nicht. In die Erinnerungsbruchstücke, die er aushilfsweise für die Wissenslücke passieren läßt, bricht die programmatische Aussage: „Ein Schwuler kann keine Frau ficken.“ Doch genau das passiert. Assoziationskaskaden, Explosion der Zähne, Vivalde. „Keine Wörter mehr hören. Keine Buchstaben sehen.“ Das Ende morgens um Vier?

Jäcki verfügt über eine Strategie zur Verhinderung des Absturzes. Er zwingt sich und Irma, die Augen offenzuhalten, bei Bewußtsein zu bleiben, stößt mit seinen Fragen nach. Es ist das Konzept des Schriftstellers an sich. Der Schwule, der seine sexuelle Identität in ein noch bedrohlicheres Bi hineinexperimentiert hat, dringt mit den Mitteln ausgefeilter Interview-Technik in die Gefühlswelt der Frau, das Unbekannte, und zwingt es zum Sprechen.

Chronologisch setzte „Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs“ den Erzählstrang Jäckis aus dem „Hotel Garni“ fort: Zurück in Hamburg, das für ihn immer wieder die Prägungen des Zweiten Weltkriegs zeigt, sein Mißtrauen vor der inszenierten Überwindung des Nationalsozialismus und die Erfahrung elementarer Zerstörung von Sinn und Moral bis hin zur Sprache. Soweit, daß er die Handlung des Romans mit „vielleicht“ beginnt und auch das noch relativiert: „Jäcki hatte nie einen Roman mit 'vielleicht‘ begonnen.“

Die Orientierung ist weg. Jäcki treibt sich rum. In und um St.Pauli. „Strich kommt von Streifen...“ Doch der schwule Protagonist scheint mehr getrieben als daß er aus freiem Entschluß umherschweifen könnte. „Vielleicht bleibt Jäcki nur in Hamburg wegen des roten Schornsteins der 'Hanseatic‘.“

Der Anfang des zweiten Kapitels meint den aufragenden Phallus. Nicht die touristische Sehenswürdigkeit am Hamburger Hafen, er dreht den Blick in die Nähe des Dammtorbahnhofs, in Gebüsche, Pissoirs, fremde Wohnungen, auf die Männer dort. In Bars, an der Alster, schließlich Othmarschen. Das ist der Streifzug.

Hamburg in knappen Worten. Dazwischen die Einbrüche, das Mißtrauen des Autors selbst seinen sparsam und präzise gesetzten Ausdrücken gegenüber, hinter denen die Lüste aufschießen, Ehrfurcht mit Häme kollidiert. Und Jäcki quer durch alle Konventionen. Heißt mal Schwuler, mal schläft er mit der Frau eines 60jährigen Architekten, der im Stockwerk darunter an erotischer Literatur und ihren Vorlagen herumstrickt. Jäcki selbst beginnt mit der Unterstützung dieser Freundin eine Karriere als Schriftsteller. Aus der „Goldenen Kugel“, der „Wilfredo-Bar“, der „Palette“ über einen Nachruf auf Edith Piaf, eine Ausstellungskritik, zur Gruppe 47. Ein wenig Tellerwäscher-Legende. Doch ein neuer Stadtplan entsteht.

Aus den Gebüschen zum Rowohlt Verlag, von den Strichern zu F.J.Raddatz, Walter Jens, Hans Mayer, Grass. Spannungen, Zugreifen. Auf den Wegen sich ändernde Verhaltensweisen, andere Verhältnisse. Zwischen diesen Welten, mit ihren „Kursen, Weichen, Signalen...“, streift Jäcki, getrieben von Fichte. „Wer wußte, daß unter dem Labyrinth seiner Wahrnehmungen andere Labyrinthe andrer Wahrnehmungen lagen.“

Jäckis Streifen ist Bewegung in vielschichtigen Irrgärten, die Fichte alle betreten hat und die erst in seiner Beschreibung Strukturen Kleiner Hauptbahnhöfe sichtbar werden lassen. Problem: Das Schreiben selbst gehört mit zu den Labyrinthen. Auch darin ist er der ewig Suchende, von Ängsten und den eigenen Qualitätsmaßstäben Getriebene.

Mit dem Wunsch, in allen zu sein - der Freundin und den Strichern, dem Milieu und intellektuellem Business -, steht die Angst vor der Spaltung: „Bi ist nicht halb so schwierig, bi ist doppelt so schlimm.“ Und schließlich die Drohung: „Paß bloß auf, daß du nachher nicht gar nichts bist.“

Die Ansammlung von Wissen und Bildung als Selbstversicherung der eigenen Größe ist eindrucksvoll dokumentiert in den als „Paralipomena“ bezeichneten Glossen -Bänden aus der „Geschichte der Empfindlichkeit“ „Homosexualität I und II“. In essayistischen Artikeln findet eine Versammlung großer Literaten auf kleinem Raum statt. Von Herodot über Sappho zu Luther, Levi-Strauss, de Sade, Genet, Sartre widmet sich Fichte einer Textarbeit auf höchstem Bildungsniveau, dem ich spätestens bei griechischen Originalzitaten nicht mehr folgen kann. Eine Lektüre für Spezialisten, die sich für den ideengeschichtlichen Hintergrund der Empfindsamkeiten Fichtes interessieren und als Würdigung eine literaturwissenschaftliche Debatte verlangen dürfen.

Hubert Fichte: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Herausgegeben von Gisela Lindemann und Torsten Teichert in Zusammenarbeit mit Leonore Mau, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main

bisher erschienen: Hotel Garni, 1987, 200 Seiten, 38 DM

Homosexualität und Literatur 1, 500 Seiten, 48 DM

Der Kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs, 230 Seiten, 38 DM

Homosexualität und Literatur 2, 360 Seiten, 48 DM