Henkelware

■ Vom vollkommenen Aufgehen in der Welt - Ein Beitrag zur Psychologie des Walkman

Horst Möbius, Barbara Michel

„Über den Walkman brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Wenn Darwin recht hatte, löst sich das Problem von selbst. In New York City werden alle Kids mit Walkman von Autos überfahren.„

Der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman

Darwin hatte nicht recht - die Kids mit Walkman sind noch nicht alle überfahren. Es lohnt sich also, sich ein paar Gedanken über den Walkman zu machen.

Der Walkman ist zwar mittlerweile ein integriertes, aber kein überholtes Phänomen bundesrepublikanischer Wirklichkeit. Die Umsatzstrategen japanischer Unterhaltungselektronikkonzerne wissen darüber zu berichten: Im Bereich „Henkelware“, darunter fallen unter anderem die Ghettoblaster, er umfaßt halt alles, was einen Henkel hat, ist er der Renner und bringt es auf zweistellige Anteilsprozente am Gesamtumsatz.

In den Großstädten gibt es mittlerweile Walkmanläden, in denen sich japanische Hi-Tech- und deutsche Billigwalkmänner aus fernöstlichen Niedriglohnländern die Hand reichen. Produktdiversifikation ist das Motto, der einzelne Hersteller bietet mittlerweile ganze Produktfirmen an.

Der Walkman als Gebrauchsgegenstand - das wäre allerdings zu kurz gedacht, beinhaltet er doch wesentlich mehr als eine rationale Zweckbestimmtheit. Man denke nur an die Ambivalenz der Gefühle, die man ihm anfänglich entgegenbrachte: auf der einen Seite die Verdächtigung der pharmazeutischen Ruhigstellung eventueller kämpferischer Impulse gegen den Sumpf unserer Wirklichkeit. Auf der anderen Seite die Verheißung eines Neuanstrichs unserer verödenden Tagtraumwelten: brasilianische Sambarhythmen und schwarzer Ghettofunk aus den Häuserwüsten der Bronx, dancing in the streets.

Durchdrungen hat er unseren Alltag, seine Ecken und Kanten hat er verloren. Auffallen tut er nur dem, der öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Für den Nichtträger ist er schon geradezu ein Synonym für das Durchgleiten gleißender großstädtischer U-Bahnwelten, einer Situation, in der uns der Alltag in seiner Banalität gegenübertritt.

Unter den Walkmanhörern gibt es soziale Schichten. Da der Walkman in der Innentasche der Jacke mitgetragen wird, erkennt man den Schickimicki oder den Prolo nur am Kopfhörer. Der eine trägt eine von diesen monströsen Beschallungsanlagen, die nur ein einziges Geschepper rüberbringen und die es an der Tankstelle schon für 29.80 Mark gibt. Der andere trägt kompakte Technik von innovativen japanischen Herstellern.

Dann gibt es noch die Walkmanhörer, die neben ästhetischen auch höchste technische oder gar praktische Ansprüche stellen: Einerseits soll der Walkman über ausgefeilteste Techniken zur Klangverfeinerung (Dolby) oder zur Komforterhöhung (Autoreverse) verfügen oder gar ein Mehr an praktischen Möglichkeiten bieten: zum Beispiel soll er aufnehmen können.

Das ist genau das Richtige für den postmodernen Sensiblo, der am Strand von Gomera bei Sonnenuntergang sein Reisetagebuch in den Walkman diktiert, das er dann zu Hause an seinem PC auf Diskette speichert. Oder aber für den „Hobby New Yorker“, der das lärmende Leben auf der 5th Avenue und das sonore Geblubber seines achtzylindrigen Drive -away-Straßenkreuzers auf Cassette einfängt und der daheimgebliebenen Liebsten als audiophilen Liebesbrief zuschickt.

Die folgende Typologie der Walkmanhörer basiert auf einer qualitativ-psychologischen Wirkungsforschung, die mit Hilfe von Herrn Prof.Heubach am psychologischen Lehrstuhl II der Universität Köln durchgeführt wurde. Die kursiv gesetzten Zitate enstammen den Intensivinterviews. Der Eiweltler

Dieser erste Typus erlebt den Alltag als überfrachtet mit Ansprüchen und Forderungen. Die zu bewerkstelligenden Wege und Tätigkeiten lassen ihn sich immer wieder unzulänglich fühlen. Getrieben von einer ständigen Suche nach Geborgenheit, findet er beim Walkmanhören endlich einmal einen ruhigen, warmen Fluchtpunkt. Da kann er ganz in sich selbst versinken, sich wie unter einer Bettdecke verkriechen. Das läßt sich am Badewannenerlebnis versinnlichen: Das Wasser ist warm, der Körper ist pneumatisch gelagert, Ent-Spannung. Die Körperbegrenzung, die Haut wird nicht mehr wahrgenommen, man ist gelöst in der 'intrauterinen Fruchtblasenflüssigkeit‘ der Badewanne.

In dem sich so konstituierenden Zwischenbereich gibt es keine zeitlichen Trennungen mehr: Man ist noch nicht losgegangen und doch immer schon angekommen. Da gibt es nichts, wo man unbedingt hin will. So kann der Eiweltler einmal ganz ungestört bei sich selbst sein und dennoch über alle Möglichkeiten an Aktionen verfügen, denn in dieser Welt ist noch alles 'drin‘. Das läßt diesen Typus zu omnipotenter Königlichkeit anschwellen: Alle Türen stehen offen, alles ruht in ihm.

In dieser Selbstzufriedenheit kann der Eiweltler in Konsequenzlosigkeit den eigenen Träumen nachhängen. Er ist geborgen wie auf dem Schoß der Mutter. Alles ist möglich, aber nichts wird verwirklicht. Strampelt dieser Typ jedoch einmal in seinem Ei, versucht er einer Sache genauer nachzugehen, dann werden die Grenzen dieses Ei-Landes deutlich: Er stößt an seine Schale. Man hat sein eigenes exklusives Reich, das zugleich Schutz, Macht und vor allem Autonomie bedeutet. Doch kann der Wall auch zur Gefängnismauer werden. Man kommt sich abgepackt vor, anderes erscheint unerreichbar. Das läßt diesen Typ zum Regentropfen werden, der nicht mit anderen zusammenlaufen kann. Ein Gefühl von Ausgeschlossenheit entsteht, man fühlt sich wie unter einer Käseglocke. Der Flaneur

Dieser Typ betont die Verfügbarkeit und Einsetzbarkeit des Walkman. Der Walkman dient nicht der Ausblendung, sondern der Förderung des Alltags. Der Flaneur betont die weltstädtische Attitüde, das Bohemehafte des Walkmanhörens. Da werden Bilder aktualisiert von einer Stadt mit riesigen Straßen, Lampen, bei Nacht. Man bewegt sich in einer mondänen Lebewelt von neonbeleuchteten Kneipen und Bars. Das Erleben wird schrill, zum ästhetischen Kunstgenuß, wie in einer Galerie; der Alltag wird seiner Alltäglichkeit enthoben.

Wie beim Flanieren an mediterranen Gestaden bedarf das bestimmter Vorkehrungen. Du ziehst dir deinen schwarzen Anzug an, du machst dich chic, bis du so richtig gedressed und gestyled bist, und als Krönung setzt du dir dann den Walkman auf. Bewegung qualifiziert sich hier als Gleiten, als Schweben. Ein Raumschiff-feeling: Man fühlt sich als Gast auf Erden. Selbst profane Tätigkeiten wie beispielsweise das Spülen lassen ich zu einer Geste souveräner Weltbeherrschung umpolen. Da macht man nur noch swingend wisch-wasch zum Rhythmus der Musik. Die Tätigkeit läuft nebenher, der Flaneur gleitet drüber weg. Strukturell gesehen lebt dieser Typ nach Art einer 'geschmierten Zweigleisigkeit‘, in zwei nebeneinanderherlaufenden Welten. So kann er spülen, sich durch die Großstadt bewegen und lebt dennoch im Glanz seiner eigenen Traumwelt. Hier muß man nicht mehr nach HB -Männchenart in die Luft gehen, alles läuft wie von selbst. Der Jongleur

Der Jongleur führt ein Leben auf dem Schnittpunkt: zwei Welten überschneiden sich, versuchen sich gegenseitig zu vereinnahmen. Er hängt dazwischen, nach beiden Seiten offen.

Der Jongleur ist ein Wanderer zwischen den Welten. Alltag und Traumwelt sind für ihn austauschbar. Immer kann er sich dem zuwenden, was ihm momentan attraktiver erscheint. Die Welt des Jongleurs zeichnet sich aus durch erhöhte Beweglichkeit und Kombinierbarkeit. Hier kann man zwischen verschiedenen Programmen nach Lust und Laune hin- und herschalten. Das gibt Spielraum für Experimentierlust. Der Jongleur erlebt sich als Konstrukteur, als königliches Zentrum einer musikalischen Welt. Er ist der Nullpunkt, die Schaltstelle, wo alles zusammenläuft. Das läßt alles auf ihn zentriert erscheinen, er erlebt sich als potentiell allmächtig.

In dieser Zentrierung löst er sich vom Äußeren; es entsteht eine Autarkie, in der er alles im Griff zu haben scheint, für andere unbemerkt. Da ist er dann sein eigener Kapitän, der schalten und walten kann, wie er will. Doch der Witz liegt darin, daß er jederzeit aus dem Geschehen heraustreten kann: dann ist er nur noch Zuschauer. Als anschauliche Analogie sei hier auf die mehrbödige Wirklichkeit des Videos hingewiesen, die man erlebt, wenn man vor einer Videokamera steht und sich gleichzeitig auf dem Monitor abgebildet sieht: Man sieht sich, sich sehend, bemerkend, daß man sich sieht. Dieser Wechsel zwischen Drinnen-Sein und Draußen-Sein ist die Spezialität des Jongleurs. Man macht die spektakulärsten Sachen, und eigentlich sitzt man zu Hause im Sessel. Der Symphoniker

Für den Symphoniker unter den Walkmanhörern komponiert sich die Welt in einem allumfassenden Gleichklang, einem Zusammenstimmen. Göttliches und Weltliches sind nicht mehr getrennt: Das ist, wie wenn es schneit; Himmel und Erde fließen zusammen. Das Erlebte färbt sich ein in der Religiosität Bachscher Fugen. Das ist wie ein Flug über schneebedeckte alpine Gipfel im Abendrot. Das Erleben des Symphonikers betont das Rauschhafte, das Sich-Auflösen, während es im Erleben des Jongleurs um ein Alles-im-Griff -Haben geht.

Es kommt zu einer Entgrenzung, in der der Symphoniker seinen Körper nicht mehr spürt, sondern zur ganzen Räumlichkeit gehört. Ein überdimensionales Konzertsaalgefühl stellt sich ein, der Eindruck des Totalen. Da kommen Assoziationen wie Weltall, oder er erlebt alles nach Art eines sphärischen Gleichklangs. Eine Klarheit ohne Grenzen stellt sich ein, indem das, was erlebt wird, nicht durch irgendwas verbaut, verschachtelt, verschleiert wird: nur noch Gefühl haben, nicht mehr denken.

Diese totale Harmonie wird mittels Verstärkung erreicht. Zum Anblick des Felsens gesellen sich Pauken und Trompeten. Darin liegt die Steigerungsmöglichkeit: Man kann doppelt schön erleben. Der Symphoniker überschreitet die Grenzen des Alltags, hat kein Land mehr unter den Füßen. Er fühlt sich befreit, von der Fixierung auf bestimmte Stellen enthoben, allen Dingen gleich nah.

In der Synchronisation dieser Welt ist er als Person gar nicht mehr ausgrenzbar, alles fügt sich reibungslos ineinander, nichts sperrt mehr.

Der Symphoniker erlebt sich als radartig in der Welt, mit ihr verschmolzen. Da weiß man nicht mehr, welche Hand wessen ist. Der Walkman wird hier im Gegensatz zur „Eiwelt“ zum Kommunikationsmittel, indem er eine Kommunikation mit allem ermöglicht: Seid umschlungen, Millionen. In diesem vollkommenen Aufgehen in der Welt um einen herum ist er nur noch im 'Draußen‘, auch aus sich selber herausgetreten.