Massenflucht der Roma in die deutsche Armut

Hundert Familien des Roma-Volks aus dem südjugoslawischen Bitola haben in Bremerhaven einen Asylantrag gestellt / Ehemalige Schule wurde zum provisorischen Sammellager / Flüchtlinge lebten in elenden Verhältnissen  ■  Von Dirk Asendorpf

Bremerhaven (taz) - In den Schulfluren riecht es nach Bohnensuppe, Kinder stürmen Treppen hoch und runter, Frauen wringen Wäsche über einem provisorischen Ablauf, die Männer rauchen Marlboro und diskutieren - fast hundert jugoslawische Flüchtlinge sind in der Bremerhavener Stormschule untergebracht, die meisten Klassenzimmer sind mit zwei Familien belegt, die größte von ihnen hat sieben Kinder.

Fast 600 Asylanträge jugoslawischer Flüchtlinge sind seit September letzten Jahres bei der Bremerhavener Ausländerpolizei eingegangen. Bis sie im Zirndorfer Bundesamt bearbeitet - und aller Voraussicht nach abgelehnt

-sind, werden noch Monate ins Land gehen. Die Familien haben sich in der Stormschule, im stillgelegten Stadtbad und seit dieser Woche auch in einem ehemaligen Güterbahnhof aufs Warten eingerichtet.

Das Provisorium Stormschule wird zur Zeit notdürftig ausgestattet: Vier Duschen, schon im April versprochen, stehen jetzt zum Einbau in der Waschküche bereit, für Klos und Flure gibt es einen Putzplan, doppelstöckige Stahlrohrbetten lassen kaum noch Platz für Tische oder Stühle, auf vier Elektro-Herden können sich die Familien ihr Essen kochen. Hausrat und Kleidung kommen von privaten SpenderInnen oder aus den Lagern der Stadt, Spielzeug für die Kinder haben die Wohlfahrtsverbände verteilt, das Sozialamt zahlt einen um ca. zehn Prozent reduzierten Sozialhilfe-Satz.

Doch diese minimale Lebensausstattung ist für die Familien, die alle aus der Region Bitola, einer kleinen Stadt im äußersten Süden Jugoslawiens, stammen, fast ein kleiner Reichtum. Die Flüchtlinge gehören zum Volk der Roma, in Makedonien lebten die meisten von ihnen an den Rändern der Stadt in elenden Verhältnissen. Ein wenig Landwirtschaft, Gelegenheitsjobs, Betteln brachte ihnen das Nötigste zum Überleben. Für den Gegenwert der deutschen Sozialhilfe müßte eine Familie in Makedonien monatelang in der Fabrik arbeiten - wenn es Arbeit gäbe.

Im September vergangenen Jahres kam der erste von ihnen nach Bremerhaven und stellte einen Antrag auf Asyl. Seinen Verwandten zu Hause berichtete er von der Sozialwohnung und

-hilfe, die ihm zugeteilt wurde. Das Bargeld reichte für mehrere Fahrkarten von Bitola nach Bremerhaven. Eine Familie informierte die nächste, und immer noch werden es jede Woche einige mehr. So zumindest erklären sich die SozialarbeiterInnen, warum ausgerechnet in Bremerhaven in wenigen Monaten knapp 600 jugoslawische Staatsangehörige Asyl suchen. Von politischer Verfolgung sprechen die Flüchtlinge nicht, wohl aber von großen Schwierigkeiten, in ihrer Heimat zu leben. „Jede Familie hat einen anderen Grund zu kommen“, erzählt ein Flüchtling.

Zu Hause haben sie das Wenige verkauft, das sie besaßen. Kaum ein Koffer ist unter den Betten in der Stormschule zu sehen. Die Wäsche, die im Schulhof trocknet, stammt aus Altkleidersammlungen. Angesichts dieser offensichtlichen Armut irritiert die SozialarbeiterInnen, daß den Familien die Finanzierung der über 1.000 Mark teuren Zugfahrkarte gelungen ist.

Und auch auf ihre eigenen Bemühungen, die sie im täglichen Behörden-Kleinkrieg mühsam durchgesetzt haben, bekommen die SozialarbeiterInnen nicht immer die erhoffte Resonanz. So tauchte ausgeteiltes Kinderspielzeug auf dem Flohmarkt wieder auf, Jugendliche interessierten sich nicht für den Förderunterricht in deutschen Schulen und die Erwachsenen zeigten keine Freude über das Angebot, Lesen und Schreiben zu lernen.

So bleiben die Flüchtlinge in der Stormstraße nun unter sich - ohne Druck investiert die Stadt keine Mark zuviel in ihre Betreuung.

Zwei Sozialarbeiter - per ABM beschäftigt - kümmern sich werktags von 9 bis 17 Uhr um die Organisation. Danach sind die Familien unter sich, jedenfalls dann, wenn nicht wie am vergangenen Freitag ungebetener Besuch durch die unverschlossene Schultür kommt. Jetzt haben sie einen Schlüssel und können sich nachts schützen. Das Verhältnis zu den Nachbarn ist schlecht. Eine zwei Meter hohe Betonstreben -Wand trennt den Schulhof vom nächsten Haus - und von einem verwaisten Spielplatz. Einige der 60 Kinder, die in der Stormschule leben, wurden dort vertrieben - von türkischen Jugendlichen, wie sie berichteten.

Fast alle der Flüchtlinge sprechen zwar Serbo-Kroatisch, die jugoslawische Staatssprache, doch Lesen und Schreiben können sie nicht. Für die Sprache ihres eigenen Volkes, der Roma, gibt es noch keine anerkannte Schrift. In Skopje, der größten Stadt im jugoslawischen Makedonien, wurde vor kurzem die erste Roma- Schule eröffnet.

Von einer „Massenflucht“ nach Bremerhaven hat der von der taz in Bitola angerufene Redakteur der Lokalzeitung 'Nova Makedonia‘ noch nichts gehört. Doch in einem ist er sich sicher: „Eine organisierte Aktion ist das nicht.“

Die Arbeiterwohlfahrt, die in Bremerhaven für die Betreuung von Jugoslawen zuständig ist, hat der Stadt vorgeschlagen, gemeinsam die Herkunftsregion der Flüchtlinge um Bitola herum zu besuchen. Dort könnten die Beamten der Seestadt Verständnis für das ihnen unverständliche Verhalten der AsylbewerberInnen finden. Aber in einem sind sich die SozialarbeiterInnen schon jetzt einig: „Das Ganze ist ein Drama“.