Messerstiche aus tiefster Seele

■ Späte Rache für eine vermeintliche Vergewaltigung unter Männern / Fünf Jahre danach wollte ein iranischer Student seinen Freund mit dem Messer töten / Täter muß vorerst in geschlossener Abteilung bleiben

Die Kränkung saß so tief, daß der 32jährige iranische Student Ebrahim S. darüber gestern im Gerichtssaal nicht sprechen wollte. Er nickte nur stumm mit dem Kopf, als Richter Kurt Kratsch ihn fragte, ob sein Freund Mohammad H. sich ihm „homosexuell genähert“ haben könnte. Knapp fünf Jahre nach diesem traumatischen Erlebnis, im Dezember 1987, nahm Ebrahim S. Rache. Er versuchte, Mohammad mit einem Messer zu erstechen. Gestern entschied eine Strafkammer des Bremer Landgerichts, daß Ebrahim auf unbestimmte Zeit in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Zentralkrankenhauses Bremen-Ost eingewiesen wird. Diagnose des dor

tigen Psychiaters Axel Tietgemeyer: „Endogene paranoide Psychose“, Verfolgungswahn.

Vor fünf Jahren hatten die beiden Freunde Tür an Tür im Ökumenischen Studentenheim in Bremen gewohnt. Nach einem Besäufnis mit einem iranischen Geschäftsmann gingen die beiden ins Heim zurück. Weil es Ebrahim schlecht geworden war, so berichtete er gestern, bot ihm sein Freund ein Glas Orangensaft an. Plötzlich sei dann auch der Geschäftsmann wieder da gewesen. Ebrahim sei bewußtlos geworden und erst neun Stunden später wieder aufgewacht - in Mohammads Bett. Mohammad H., gestern als Zeuge vor Gericht, bestritt, seinen Freund mit einem Orangen

Getränk eingeschläfert zu haben.

Weil Mohammad dann nach Krefeld verzog, verloren die beiden sich aus den Augen. Aber gemeinsame iranische Bekannte hielten Ebrahims Wunde offen, so jedenfalls seine Wahrnehmung. Sie hätten ihn „angemacht“, erzählte er gestern. Gutachter Tietgemeyer wurde deutlicher: Ebrahim S. habe sich eingebildet, daß die gemeinsamen Bekannten von der vermeintlichen homosexuellen Attacke wüßten und ihn mit „versteckten Bemerkungen, mit indirekten Andeutungen“ unter Druck setzen würden. Als Drahtzieher hinter all dem vermutete Ebrahim E. seinen früheren Freund Mohammad H.

Von einem Mann „gebumst“ zu werden, gelte in der moslemischen Gesellschaft Persiens als die allergrößte Schande, berichtete ein Beobachter aus den Bekanntenkreis der beiden am Rande des Prozesses. Einen Jüng

ling zu „bumsen“, und damit „zur Frau zu machen“, werde eher als ein Kavaliersdelikt betrachtet - wenn auch als ein besonders gefährliches: Die Rache des Geschändeten sei oft tödlich.

Im Dezember des vergangenen Jahres lag Mohammad H. wegen einer Knie-Verletzung in einem Bremer Krankenhaus und wurde dort häufig von Ebrahim S. besucht. „Ich habe mich gefreut, aber auch gewundert“, sagte er gestern. Wenige Tage, nachdem

er aus der Klinik entlassen worden war, besuchte Ebrahim ihn in seiner Wohnung. Er war unruhig und einsilbig. Zu Besuch war schon ein weiterer iranischer Kommilitone, Hosein B. Mohammad H. bereitete Tee und schnitt „Dresdener Stollen“ auf. Ebrahim trug beides ins Wohnzimmer. Dort versteckte er das Kuchenmesser und eine Schere, die auf dem Tisch lag, im Schrank. Dann holte er sein Klappmesser aus der Tasche und stach zu. Zunächst verletzte er Hosein B, dann stürzte er in die Küche und versuchte, Mohammad H. mit dem Messer zu töten. Es gelang den beiden verletzten Männern aber, Ebrahim S. festzuhalten. Als Mohammads Frau nach Hause kam, händigte er ihr schließlich das Messer aus. Als die Polizei kam, ließ er sich ohne Widerstand festnehmen.

Seit Monaten sitzt er nun in Bremen-Ost und wird psychotherapeutisch behandelt. Er zeigte den bärenhaften Gang und das stille Lächeln, das den dortigen Patienten eigen ist, wenn sie unter schwere Beruhigungsmittel gesetzt worden sind. Er sei einer der

wenigen, die die Spritzen widerstandslos entgegennähmen, berichtete Gutachter Tietgemeyer. „Türken und andere Ausländer haben eben noch ein stärkeres Autoritätsgefühl gegenüber Medizinern“. Tietgemeyer erzählte, daß Ebrahim S. in der Klinik immer über seinen Büchern sitze, um sein Studium der Elektrotechnik nicht aufgeben zu müssen. Sein Vater, ein wohlhabender Geschäftsmann aus Täbris im aserbeidschanischen Teil des Iran, sei streng und überdies ein Trinker gewesen. Daß er ihn oft geschlagen habe, bestätigte auch Ebrahim S. selbst. In seiner Familie habe Ebrahim sich nicht anerkannt gefühlt. Deshalb habe er versucht, sich durch besondere Leistungen hervorzutun. In seinem Schlußwort sagte er: „Ich will mein Studium weiterführen und beenden. Deswegen bin ich hierhergekommen.“

Das ist auch durch das gestrige Urteil nicht ausgeschlossen. Nach Meinung des Gutachters ist sein Verfolgungswahn heilbar. Im Februar des kommenden Jahres will Ebrahim S. wieder studieren.

Michael Weisfeld