DIE EXPLOSION DER LEINWAND

■ Paul Sharits Zelluloid-Dramen im Arsenal

Der Licht-Strahl der Projektorlampe dringt an manchen Stellen durchs körnige Filmmaterial hindurch, trifft auf die weiße Leinwand, wird von dieser zurückgeworfen, um schließlich die Sehnerven im Auge des Betrachters zu reizen. Was normalerweise möglichst nicht wahrgenommen werden soll, ist dem strukturellen Experimentalfilm gerade gut genug, um das Bewußt-Sein des Zuschauers zu erweitern.

Wohl jeder hat sich im Kino schon mal über schlechte Kopien geärgert; Staub, Klebestellen und Kratzer gesehen, oder vielmehr versucht, sie nicht zu sehen, weil sie einen von der Illusion ablenken, weil sie bewußt machen, daß das alles nur ein Film - also alles eine Lüge ist, was man für „Realität“ hielt.

„Auf die Gefahr hin, unbescheiden zu wirken: Ich habe die grundlegenden Mechanismen des Films überprüft, verdeutlicht und konkretisiert, und habe das Gefühl, auf eine neue filmische Konzeption hinzuarbeiten. Üblicherweise sind 'abstrakte Filme‘, weil sie Weiterentwicklungen der Ästhetik und der Bildprinzipien der Malerei sind, nicht filmgemäßer als erzählend-dramaturgische Filme, die Literatur und Theater auf eine zweidimensionale Leinwand quetschen.“

Paul Sharits schrieb das 1967 in seinem „Statement of Intent“ (Absichtserklärung), als er seinen Film Ray Gun Virus beim Experimentalfilmwettbewerb in Knokke einreichte: Ray Gun Virus ist ein flicker film (Flackerfilm). Flicks, ein Slangausdruck für „Filme“, beschreibt nicht die vom Film bewirkte Illusion (motion picture / bewegtes Bild, was eigentlich falsch ist), sondern den tatsächlichen Ablauf einer Filmprojektion: das sekundenbruchteil-kurze Aufflackern eines Filmbildes auf der Leinwand, die anschließende Dunkelphase, und das darauffolgende Aufflackern des nächsten Bildes. Flicker films sind kurze und sehr schnell aufeinanderfolgende Bilder, die auf verschiedene Arten angeordnet, durch das ganze Werk hindurchflackern.

„Ich möchte mich von der Imitation und Illusion abwenden und direkt in das höhere Drama von Zelluloid, zweidimensionalen Filmstreifen, individuellen Bildern, Natur der Randlöcher ... optischen Nerven und individual psychophysikalischen Bedingungen eintreten“ (Sharits).

Ray Gun Virus besteht aus Einzelbildern, die unterschiedlichen Farb- und Lichtmengen ausgesetzt wurden. Die Illusion ist gegenwärtig und unmittelbar und nicht aus der Vergangenheit, wie beim konventionellen Film, wo sie sich auf eine frühere Zeit und einen früheren Ort bezieht: Ray Gun Virus geschieht im Moment des Betrachtens.

Manchmal erscheint ein trügerischer Mittelpunkt (dessen Dauer aber zu kurz ist, um ihn „wirklich“ wahrzunehmen), durch rasch aufeinanderfolgende Farben entstehen scheinbar Doppelbelichtungen, die Größe der Leinwand scheint zu expandieren (wenn die Flacker-Farben über die Ränder hinauszucken), und später beseitigen „Abblenden“ die Leinwand sogar total: Ray Gun Virus wird von Farben und Licht erschaffen und ihr Fehlen vernichtet jegliche Wahrnehmung. Ein gleichmäßig-knatternder Ton (erzeugt durch die Perforationslöcher) scheint sich bei bestimmten Farben zu verändern oder sein Knattern sich dem Rhythmus der Lichtblitze anzupassen. Ray Gun Virus erschafft tatsächlich Illusionen: im Kopf des Betrachters - und nicht durch ein Theaterspiel auf der Leinwand. Es sind Illusionen und visuelle Empfindungen, vergleichbar denen, wenn man plötzlich die Augen schließt und unsere Netzhaut imaginäre Bilder erzeugt.

T'O'U'C'H'I'N'G ist der frenetischste Flacker-Film von Sharits: zur optischen Ebene addiert er eine akkustische Endlos-Schleife, auf der das Wort destroy ununterbrochen zu hören ist, oder zu hören sein müßte, denn man meint nach einiger Zeit ganz andere Worte wahrzunehmen: it's gone, his straw oder history. Sharits erklärte einmal, daß destroy sich tatsächlich selbst zerstöre und so der visuellen Raserei seines Filmes entspreche. Es ist wie mit manchen Bildern in Sharits Filmen: Je aufmerksamer man sie wahrnehmen will, desto mehr entschwinden sie, aber wenn man sie entspannt vorbeiflackern läßt, kann man alles erkennen.

„Ich will keine Geschichten erzählen, sondern nur nahelegen, daß es eine Geschichte geben könnte“, sagte Sharits, „In 3rd degree gibt es auch eine Geschichte, wir sehen die Frau, die sich vor dem angezündeten Streichholz fürchtet, aber sie gibt nicht auf, und auch der Film bleibt hängen und verbrennt, aber er gibt nicht auf, er geht immer weiter.“ Und in S: TREAM: S: S: ECTION: S: ECTION: S: S: ECTIONED schließlich erschafft das, was eigentlich alle Filme zu zerstören imstande ist, ein eigenwilliges Filmerlebnis: „Kratzer sind furchtbar, also wollte ich einen Film machen, der die Kratzer als Teil des Bildes enthält“ (Sharits). Aufnahmen eines Wasserfalls, die durcheinander geschnitten sind, sodaß das Wasser manchmal von der Seite und manchmal von unten nach oben strömt, werden mit einem, den ganzen Film durchlaufenden Kratzer -Strom versehen: Während das strömende Wasser eine Illusion ist, sind die Kratzer-Ströme Realität.

Sharits attackiert den Zuschauer mit hämmernden Farb- und Lichteffekten, greift die Materialien des Films an und stellt selbst die unveränderbar feste Größe der Leinwand infrage. Alles was man als sicher akzeptiert hat, muß einer Prüfung unterzogen werden. „Wenn Kunst mit Wahrnehmen und Erkennen auf neue Weise zu tun hat, ist die Wichtigkeit von Paul Sharits Werk nicht in Frage zu stellen“ (Regina Cornwell).

Torsten Alisch

24.-28.7. jeweils 20 Uhr im Arsenal