Nocturne auf Neu-Pariser-Art

■ Eine Irrfahrt durch die Kneipen der Pariser Immigrantenviertel

Paris (taz) - Paris, XVIII Arrondissement, Rue de la Chapelle. Es ist elf Uhr abends. Wir haben gerade in einem der preiswerten aber guten chinesischen Restaurants am Place Robin gegessen. Hier bietet eine Baumgruppe den Augen eine wohltuende Abwechslung in der Pariser Stein-, Beton- und Asphaltwüste. Abends treffen sich hier Gruppen von Afrikanern zum Gespräch, manchmal auch zum Streit. In den Hotels in der Nähe kann man für 80 Francs ein Zimmer mieten; die Immigranten aus dem Maghreb, aus Schwarzafrika und Asien quartieren sich hier für Wochen, manchmal Monate ein. Für die meisten ist die zunächst vorübergehende Bleibe längst zur Endstation geworden. Zurück vor unserer anonymen, zwölfstöckigen Mietskaserne müssen wir am Eingang eine Kennziffer eingeben. Damit ja kein Gesindel seinen Fuß in diesen Prachtbau setzen kann.

Hinter dem Wohnblock verlaufen die Gleisstränge zum Gare du Nord, auf denen morgens die Arbeitskräfte aus den Vorstädten in die Fabriken und abends wieder zurück in das Banlieu gekarrt werden. Die Windboen fegen selbst bei geschlossenen Fenstern durch die engen Wohnungen. Die Namen auf den Briefkästen lauten: Legrand, Bhangoo, Singi, Dupont, Mehrabani, Tchernovich. Es ist 23 Uhr, der Wein ist alle, und Zigaretten sind auch keine mehr da.

Mitbewohner D. bietet sich an, für Nachschub zu sorgen. „Dauert es länger?“ frage ich , „dann komme ich mit.“ Zu zweit ziehen wir wieder los. Im arabischen Lebensmittelgeschäft drei Querstraßen weiter herrscht auch um diese Zeit noch reger Betrieb. Fünfkilotüten mit Reis, Hirse, Kichererbsen, Plastiksäckchen mit Gewürzen, Konserven aller Art stapeln sich bis unter die Decke. Wir klemmen uns zwei Flaschen „Sidi Brahim“, schweren algerischen Rotweins, unter den Arm und wenden uns dem zweiten, schwierigeren Teil unseres Auftrags zu. Zigarettenautomaten gibt es in Paris nämlich nicht. Wer nicht in der Nähe eines der großen Boulevards wohnt, muß schon einen längeren Fußmarsch in Kauf nehmen, wenn er zu dieser Stunde seine Nikotinsucht befriedigen will. Und selbst dort ist es nach zwei Uhr morgens zappenduster.

Aus der nächsten Kneipe dröhnt Reggae-Musik bis auf die Straße. Nein, Zigaretten verkauft sie nicht, bedeutet uns die kunstvoll blondierte Französin mittleren Alters hinter dem Tresen. Auch dann nicht, wenn wir etwas trinken, wozu wir durchaus bereit wären. Die Schachteln, die sich im Regal hinter ihr stapeln, sind für Stammkunden bestimmt. Nach mehreren ergebnislosen Anläufen bleibt uns nur der Marsch zum nächsten Boulevard, dem Boulevard de Barbes. Auch eine ausgesprochene Immigrantengegend. Dort werden wir schließlich in einem Cafe fündig. Endlich, wir brauchen noch nicht einmal etwas zu konsumieren.

Danach ein Schlenker durch die Goutte d'Or, die nach den Planungen der Stadt zur Hälfte abgerissen werden soll. Aus einer arabischen Imbißbude dringen die klagenden Töne eines Liebesliedes, davor eine Gruppe von Männern beim nächtlichen Plausch. Eine Frau im knöchellangen Kleid mit schwarzem Kopftuch, eine kleine Ausgabe des Koran an die Brust gepreßt, hastet nach Hause. Je weiter wir uns vom Boulevard entfernen, desto mehr haben sich die Bulldozer bereits vorgefressen. Zur Rechten erhebt sich ein Betonklotz, in dessen Erdgeschoß offensichtlich die moderne Version einer Ladenzeile eingeplant ist, die Metallrollos vor den künftigen Geschäften sind heruntergelassen. Dahinter eine umzäunte Freifläche, auf der früher fünf bis sechs der dreistöckigen schmalen Häuser gestanden haben mögen. Ein Schild weist darauf hin, daß hier ein Parkhaus errichtet werden soll. An einer Straßengabelung ist die Verschönerungsaktion bereits beendet: Um eine Wasserstelle ein Halbrund aus blauen Kacheln, verziert mit einem Goldtropfen in Anspielung auf den Namen des Viertels. In den benachbarten Altbauten sind einzelne Geschäfte und Fenster zugemauert.

Durch Seitenstraßen schlagen wir den Weg nach Hause ein. Es ist zwei Uhr morgens, als wir schließlich wieder die Wohnung in unserem modernen, geschützten Prachtbau betreten.

Beate Seel