Tatort Alltag

■ Haltet den Dieb! oder: Warum hilft mir denn keiner? Di, 19.7. ZDF,19.30

„Haltet den Dieb!“ war ein verwirrendes Motto für eine sonst gute Reportage. Denn es ging nicht darum, vermeintliche Täter in heldenhafter Selbstjustiz abzugreifen, sondern um unterlassene Hilfeleistungen. Das zeigte kürzlich der Pfannkuch-Fall in Tübingen: Verantwortungsbewußte Supermarkt -Angestellte ergriffen beherzt einen harmlosen Dieb und würgten ihn zu Tode. Als der Täter blau anlief und somit zum Opfer wurde, sah sich die gleichgültige, gaffende Menge nicht gezwungen einzugreifen. - Darum geht es! Nicht den Täter nach perfekter XY-Choreographie zu schnappen, sondern Opfern von Gewalttaten zu helfen. Nicht einfach die Augen wegzudrehen, sondern dazwischenzugehen.

Renate Juszig begab sich mit Schauspielern und versteckter Kamera zum Tatort Menschenmasse: Fußgängerzone, U-Bahn, vielbefahrene Straßen, am hellichten Tag. 1.Szene. Eine Frau wird im hektischen Menschengewühle angegriffen und in eine Toreinfahrt gezerrt. Sie schreit. Minuten vergehen bis jemand eingreift. 2.Szene. Diesmal wird die Frau in der halbbesetzten U-Bahn begrabscht, sie wehrt sich, keiner reagiert. Eine Oma mit neckisch roter Baskenmütze, Handtäschchen auf dem Schoß, dreht sich indigniert um. Endlich haut ein Typ dazwischen. - Frage an die tatenlosen Mitbürger: Warum sind sie nicht eingeschritten? Da behauptet doch die Alte mit dem Täschchen tolldreist: Sie hätte nichts mitgekriegt und wenn, dann wäre sie ausgestiegen. Bei Frauen in Not ist ein Urteil schnell gefällt. Das ist bestimmt der Ehemann und „der darf das“, nur nicht in das deutsche Eheelend eingreifen, oder: Typisch, was trägt die auch einen Mini-Rock, selbst schuld, oder: Eine kreischende, um sich schlagende Frau ist entweder hysterisch oder verrückt.

Verrückt dachten viele auch im Fall von Ulrich N.. In der Neujahrsnacht 1971 hopste er halbnackt in Unterhose und mit gefesselten Händen im Schnee am Fahrbahnrand. Hunderte von Autos fuhren vorbei. Einen Tag später titelte die Schlagzeile: Ulrich N. erfror bei 15 Grad minus. Er war Opfer eines Raubüberfalls geworden. Die Reaktion der Zeitungsleser und Fernsehgucker in solchen Fällen. Sie wiegen den Kopf voller Betroffenheit über die rohe Gewalt in unserer gefährlichen Welt. Und montieren das 27. Sicherheitsschloß an ihre Haustür. Dabei werden nicht irgendwo fernab von jeglicher Zivilisation Frauen vergewaltigt, Kinder mißhandlet oder Türken von Skins zu Tode gedroschen, sondern vor der eignen Nase, in Sicht- und Hörweite.

3. Szene. Ein Mann in Parka und Jeans liegt leblos im Abgasnebel und Regen an der Elbchaussee in Hamburg. Es dauert endlos, bis jemand anhält. Die Volksmeinung hält rumliegende, fertig aussehende Männer, entweder für Penner oder Besoffene. Denen ist sowieso nicht mehr zu helfen.

In der Anonymität der Großstadt ist der letzte Funken an schlechtem Gewissen schnell beruhigt. Dafür ist Vater Staat zuständig: Die Polizei, die Feuerwehr, der Notarzt. Der nächste Gedanke: Ich bekomme doch nur unnötige Scherereien. Ganz abgebrühte Bürger denken auch, wenns mal wieder laut und brutal wird: Da drehen sie bestimmt wieder einen Film.

Caroline Schmidt-Gross