Legenden, Sagen, Überlieferungen

■ Der Berg des Aberglaubens und andere Geschichten von Fritz Lang

Vor kurzem ist in Wien der zweite Band bisher noch unveröffentlichter Filmgeschichten aus dem Nachlaß des Filmregisseurs Fritz Lang erschienen. Die darin versammelten Texte lesen sich im Gegensatz zum ersten Buch mit Lang -Geschichten wie eigenständige Prosastücke und -entwürfe, in denen Hinweise für die Verfilmung weitgehend fehlen. Der Herausgeber hat diese Geschichten unter dem Titel „Legenden“ zusammengefaßt; man findet poetische Stoffe, wie die kurze Geschichte vom „ewigen Wanderer“, der biblischen Figur Ahasverus, dessen Schicksal die rastlose Bewegung durch den Lauf der Zeit ist, oder die „Legende vom letzten Wiener Fiaker“, hinter der sich eine nostalgisch anmutende Hommage an das alte Wien zur Zeit der k.u.k.-Monarchie verbirgt, mit all ihren mittlerweile zu Klischees geronnenen Kennzeichen, die an Paul Hörbiger, Hans Moser und den Heurigen erinnern. Diese märchenhaften, irdisch-himmlischen Geschichten lassen eine Verbindung mit Fritz Langs Spielfilm „Liliom“ erkennen, einem Film, der das Jenseits in der Form einer gläsernen Szenerie ins Bild setzt.

Die Titelstory, „Der Berg des Aberglaubens“, soll in den Vereinigten Staaten für Jahre Fritz Langs Lieblingsprojekt gewesen sein. Das merkt man der Geschichte an, zumal der Regisseur hier mit für ihn typischen Themen umgeht. Lang mag die verschiedenen Motive und Zeichen, die diese Story enthält, aus seinen bevorzugten Drehbuchquellen herausgeholt haben, aus Kolportageromanen, Zeitungsmeldungen und Comic strips. „Der Berg des Aberglaubens“ ist zugleich Abenteuerstory und Legendenstoff. Die Suche nach Gold in den „Superstition mountains“ hat eine eigene, fatale Tradition, die Langs Erzählung zugrunde liegt und den Hintergrund bildet für eine Geschichte von Liebe und Haß, Tod und Vergeltung, Schuld und Sühne, und vor allem Besitzgier.

In der Jetztzeit der Story, die im Jahre 1939 in einer amerikanischen Kleinstadt im Mittelwesten spielt, ruft die Idee des Goldes Erinnerungen an vergangene Goldgräber -Legenden und verschüttete Minen wach. Es sind amerikanische Mythen, Bilder von Wüsten- und Felslandschaften, von Westernpionieren, Indianern und prähistorischen Ruinen, die sich einem vor Augen abspielen und in eine Handlung überleiten, welche die Verhältnisse in den USA schonungslos auf einen Nenner bringt. Als in der Provinzstadt das Gerücht eines Goldfundes aufkommt, greift eine allgemeine Hysterie um sich. Schlagartige Veränderungen der Bewohner werden sichtbar, und ein charakterlicher Verfall scheint aus den Physiognomien fratzenhaft hervorzutreten.

Ein Komplott zwischen einer vorverurteilenden Presse, einem korrupten Anwalt und den führenden Geschäftsleuten des Ortes - „vier Ratten haben einander gefunden“ - steuert eine launenhafte und manipulierbare öffentliche Meinung. Die Geschichte läuft auf etwas hinaus, was Lang vor allem in seinen amerikanischen Filmen der dreißiger Jahre thematisiert und bereits im Film „Metropolis“ ins Bild gesetzt hat: Das Phänomen der „aufgewiegelten Masse“, aus Menschen bestehend, die einzeln anständig, gemeinsam jedoch zur Lynchjustiz bereit sind. „Die blutunterlaufenen Augen der Menge...“ schreibt Lang - die plötzlich ausbrechende Gewalttätigkeit einer anonymen Masse muß ihm zeitlebens eine angstbesetzte fixe Idee gewesen sein.

Abenteuergenre und eine triviale Romantik der Legendentradition - sie verknüpfen sich in dieser Geschichte mit Fritz Langs realistischer Systemkritik in seinen frühen Hollywood-Filmen. Beispielhaft zeigt sich ein Amalgam von Formen und Vorstellungen, das für Langs gesamtes visuelles Universum symptomatisch ist. Aus diesem Buch kann man es herauslesen.

Jörg Becker

Fritz Lang: Der Berg des Aberglaubens und andere Geschichten; herausgegeben von Cornelius Schnauber und übersetzt von Hermi Amberger; Paperback, Europa Verlag, Wien 1988, 192 Seiten, 28 Mark.