Kein Nachsingen

■ Bruce Springsteen in Weißensee

Ein Hauch von Glasnost in der DDR oder endlich ein bißchen Originalqualität für die realsozialistischen Stiefkinder der Weltkultur? Diese Alternative muß nicht entschieden werden. US-Fahnen, Hundertausende von Jugendlichen, die „Born in the USA“ mitsingen, alle diese Begleitumstände des Springsteen -Auftritts dürfen genausowenig als direkte Zeichen der Rebellion gedeutet werden wie die Tatsache des Konzerts als Schritt in Richtung Glasnost. Die DDR-Jugend gilt nicht zu Unrecht als das begeisterungsfähigste Publikum der Welt. Das staatliche Jugendkultur-Ritual, die kontinuierliche Speisung der Massen mit Begeisterungs- und Identifikationsstoffen hat in der DDR ein schmerzhaft ungestilltes Bedürfnis nach Begeisterung und Identifikation geschaffen. In der DDR herrscht ein Ausdrucksdefizit - verschärft noch durch den Erfolg einer negativen Kulturpolitik: Diejenigen, die etwas zur Sprache brachten, wurden mitsamt ihrer Sprache in den Westen gejagt.

Der Enthusiasmus, der Springsteen entgegengebracht wurde, beweist zunächst auch, daß die Mauer nach wie vor die größte kulturelle Verstärkeranlage ist, die man sich vorstellen kann. Die Botschaften von Rebellion, Einsamkeit und Leidenschaft, die im Westen längst zu Produkten eines kalkulierten Marketings, zu einer verkaufsfähigen Message geworden sind, werden durch die Mauer wieder zum reinen Ausdruck. Das Mitsingen der Springsteen-Texte ist kein Nachsingen, sondern der Versuch, eine eigene Sprache zu finden. Die eigene Sprache wird sich aus der Lehnübersetzung des Rock-Englisch entwickeln. Wenn nun Partei und FDJ sich in Toleranz gegenüber den 160.000 Jugendlichen üben, einen Springsteen bieten, um ihnen überhaupt etwas zu bieten, zeigt das nur, daß sie längst alle Chancen für erfolgreiche Sprachregelungen verloren haben.

Klaus Hartung