Die Insel Krim

■ Eine starke Polit-Satire als Perestroika-Labor

Dr.Seltsam

Wassilij Axjonow, ein russischer Emigrant in New York, hat rosige Träume: Im Jahre 1920, zum Ende des russischen Bürgerkrieges, konnten sich die versprengten Reste der antibolschewistischen Wrangel-Armee auf die „Insel“ Krim retten. Ein betrunkener englischer Leutnant ändert versehentlich die Weltgeschichte, indem er vermittels einiger Schiffskanonaden die Rote Armee daran hindert, die Krim zu erobern. Direkt vor der Nase der sowjetischen Supermacht entsteht nun ein Inselparadies, eine Konsumdemokratie westlichen Zuschnitts.

Die Landenge, die in der wirklichen Geographie die Krim zur Halbinsel macht, ist wenige Kilometer breit. Es ist also nur ein kleiner Schritt über die Realität hinaus, wenn Axjonow seinen Roman, der letztes Jahr auf deutsch bei Ullstein erschien, Die Insel Krim nennt. Ein Werk von ungewöhnlicher satirischer Qualität; selten hatte ich in einer Lesewoche so sehr das Gefühl neuer Horizonte und Durchblicke und Anlaß zu neuen Fragen. Axjonow zeigt uns die Russen und wie sie wären, wenn Rußland wie „wir“ wäre: Kapitalistisch, vollversorgt, gelangweilt, übersättigt, parlamentarisch und „frei“, - nur eben russisch, also ganz, ganz anders. Axjonow ist Emigrant (seit 1980 in den USA), liebt seine Heimat über alles, wie es eben nur ein Russe versteht. Ebenso sind, in seinem Roman, die reichen Bewohner der Insel Krim ganz kindisch verliebt in den spätstalinistischen Koloß im Norden (es spielt am Ende der Breschnew-Ära): folglich bemühen sie sich um Aufnahme als 16.Unionsrepublik in die UDSSR. Wie würde sich der verunsicherte bürokratische Apparat gegenüber dieser kräftemäßig unterlegenden Demokratie und ihren Ausbreitungsgefahren verhalten? Eine Frage, deren Aktualität heute auf der Hand liegt und wie eine prophetische Illustrierung der Kämpfe unserer Jahre erscheint, quasi acht bis zehn Jahre vorhergedacht. Erwartete die sowjetische Emigration schon so lange die neuere Entwicklung und sah sie so genau voraus? Hoffentlich nicht, denn im Roman verliert die kleine Krim, der russische Koloß bleibt unveränderbar.

Weit entfernt von der Emigrantenjammerei Solschenizyns, Maximows usw., bei denen die böse Partei alles originär Russische im Volksleben erstickt, behandelt Axjonow das Dissidententum als Normalfall. Was uns an der Sowjetgesellschaft von außen betrachtet, immer so undurchsichtig und lähmend erschien, war ja die gemeinsame Überzeugung der regierenden Apparatschiks wie ihrer emigrierten Gegner, daß die Partei tatsächlich die Gesellschaft fest im Griff habe. Wenn Axjonows Held illegal durch die Union trampt, begegnen ihm so viele überraschend fremde und einzigartige Charaktere, daß der Leser sofort Lust verspürt, dieses ungeheure, unkontrollierbare Potential kultureller Erneuerung kennenzulernen. Ein Arsenal von abenteuerlichen Typen, das in der östlichen und westlichen Berichterstattung seit Jahrzehnten aus einleuchtenden Gründen ausfiel: der Rockmusiker, heimlicher Held der unangepaßten Jugend; der unverschämte Grenzgänger, der für sich selbst alle Möglichkeiten illegaler Aus- und Einreise erprobt hat; die emanzipierte Sportfunkionärin, die sich in der westlichen Freiheit sofort prostituiert, dann aber voller Scham zur heimischen Parteiprüderei zurückkehrt Denunzianten, Schieber, Parteiarbeiter werden uns mit moralinfreier Sympathie vorgeführt; nicht zuletzt der brillante jüdische ZK-Sekretär, der in seiner demokratischen Weltoffenheit als vorweggenommener Gorbatschowist beschrieben wird.

Die offizielle Staatsapparatur, mitsamt Geheimpolizei, Parteispitzeln und gerontischer Nomenklatur erscheint bei Axjonow als fast zu vernachlässigendes Nebenproblem, als Seifenschaum auf dem bewegten tiefen Wasser der „wahren russischen“ Kultur im Untergrund. Das wirkliche Leben der Sowjetunion ist offenbar nicht das, was die 'Prawda‘ zu melden pflegte, und auch nicht das graue Einerlei, das wir aus unserer Presse immer schon zu kennen meinten. Und das lange vor Gorbatschow!

Die Hauptfigur, der Krimbewohner Andrej Lutschnikow, genannt Lutsch ( der Lichtstrahl: ex oriente lux), ist ein arrivierter Linker, Playboy und Großverleger, eine Art konsequenterer und erfolgreicherer Augstein. Er ist Führer und Inspirator einer überparteilichen „Bewegung für den Anschluß ans Mutterland“. In einer satirischen Meisterleistung führt uns Axjonow nun die ganze Galerie der widerstreitenden Krim-Parteien vor (Rechtsradikale, Junktürken, Maoisten usw.) wie auch die sogenannten „Klassenkameraden“ des Heldens, die herrschende Clique, darunter ein unvergeßlicher weißrussischer Grafensproß, der ein wildes Autorennen rund um die Krim zu Propagandazwecken auf einem russischen Schiguli gewinnen will und dabei den Heldentod für die neue Bewegung stirbt.

Seine politischen PR-Initiativen führen Lutsch bis in den geheimen, mehrfach abgesicherten Tagungsort des Politbüros, der sich als verschwiemelte Männersauna erweist. Die Reden der Führungskader im Schwitzbad hören sich genau so an, wie man es von Gorbatschows Vorgängern privatim erwarten würde. Uniformiertheit, Machtdünkel, großrussischer Chauvinismus und Antisemitismus geben den Ton an. Wenn unter derart geisttötender Parteiherrschaft schon so viel Charakter und Kraft in der Sowjetunion gedeiht - wozu müßten die erst fähig sein unter Glasnost-Bedingungen! Kernfrage also: Was würde aus diesen hochbegabten, sentimentalen Menschen unter Bedingungen von Reichtum und Freiheit? Axjonows Meinung dazu, heimatverliebt und parteilich: Sie würden alle anderen in die Tasche stecken, ökonomisch wie kulturell, und zum Beweis schildert er die paradiesischen Zustände auf der kapitalistischen Insel Krim. Das haben die etwas schlaueren Ökonomen wohl ebenfalls begriffen. Die riesige Union mit Kritikfreiheit, bei vergesellschafteter Industrie, rationellerer Planung durch interessierte Arbeiter und Ingenieure, die laut Axjonow „angeborene Weisheit dieser alten Völker“, verbunden mit den unendlichen sibirischen Bodenschätzen - diese brisante Mischung könnte in Zukunft eine so unwiderstehliche Anziehungskraft entfalten, besonders einem krisengeschüttelten Westen gegenüber, daß schließlich doch noch die alten Bolschewistenträume von der natürlichen Überlegenheit eines sozialisierten Rußlands in den Bereich des Möglichen rücken.

Die Story des Buches endet tragisch und wie noch von Breschnew: Der große Bruder Moskau traut dem ehrlichen Ansinnen der Krimbevölkerung nicht und überfällt eines Morgens die Insel mit einem brutalen Armeeaufgebot. Infolge der durchaus sexistischen Grundlinie des Romans - die nur erträglich ist, solange man das ständige Volldampf-Geficke als Pornografiesatire auffaßt - erscheint diese plumpe, bärenhafte Invasion als ungeheure chauvinistische Vergewaltigung einer weiblichen Insel. Das spricht für Axjonows episches Talent: Gibt es ein passenderes Bild für die gewaltigen Kräfte, die in der SU derzeit im Clinch liegen?

Wir im Westen jedenfalls haben noch lange nicht begriffen, worum es in Moskau wirklich geht. „Die Insel Krim“ hilft, unsere politische Phantasie anzuregen, wenigstens bessere Fragen zu stellen.

Dr.Seltsam

Wassilij Axjonow: Gebrannt, Ullstein 1985 (vergriffen)

-: Der rote Eisberg, Ullstein, 1981, 28 DM

-: Die Insel Krim, Ullstein, 1986, 39 DM