Wiglaf Droste
: Law is where you buy it

■ Zum hundertsten Geburtstag von Raymond Chandler am 23. Juli

Es war gegen elf Uhr morgens, Mitte Oktober, ein Tag ohne Sonne und mit klarer Sicht auf die Vorberge, was klatschkalten Regen verhieß. Ich trug meinen kobaltblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch, schwarze Sportschuhe und schwarze Wollsocken mit dunkelblauem Muster. Ich war scharf rasiert, sauber und nüchtern – egal nun, ob's einer merkte. Ich war haargenau das Bild vom gutgekleideten Privatdetektiv. Ich wurde von vier Millionen Dollar erwartet.

Mit diesen kühlen Worten stellte sich 1939 Philip Marlowe, Privatdetektiv, fünfundzwanzig Dollar pro Tag plus Spesen, keine Scheidungssachen, hundert Dollar Vorschuß'der Welt vor. Sein Erfinder, Raymond Chandler ist gute fünfzig, als er The Big Sleep, seinen ersten Roman schreibt und bei Alfred Knopf herausbringt. In den sechs Jahren zuvor hat er Detektivgeschichten für die Pulps, auf billigstem Papier gedruckte Krimi-Hefte produziert; die meisten davon für Black Mask, das als die Schule des hard-boiled writing gilt und das Angesehenste dieser Magazine ist. Erle Stanley Gardner und vor allem Dashiell Hammett schreiben für Black Mask; als Chandler im Dezember 1933 seine erste Story, Blackmailers don't shoot, veröffentlicht, ist Hammett bereits eine literarische Berühmtheit und wird als Hätschelkind der Society auf den Parties zwischen New York und Hollywood herumgereicht. Chandler schreibt über ihn:Hammett zog den Mord aus der venezianischen Vase und ließ ihn auf die Straße fallen. Er gab den Mord den Menschen zurück, die aus wirklichen Gründen morden, nicht nur, um eine Leiche zu liefern.

Beide, Hammett und Chandler, verbindet die tiefe Abneigung gegen den deduktiven, britischen mystery-Roman, in dem alte Tanten Giftmorde begehen und feinsinnige Landpfarrer sie als Hobbydetektive aufklären. Während Dashiell Hammett als Pink, als Detektiv bei Pinkerton's gearbeitet hatte und aus eigener Anschauung wußte, worüber er schrieb, mußte Chandler sich weit mühsamer und künstlicher in die Welt des Verbrechens und ihrer Bewohner hineinwühlen.

Seine eigenen Lebenserfahrungen waren völlig entgegengesetzter Natur. In Amerika geboren, in England ohne Vater aufgewachsen, machte er nach der Public School seine ersten Schreibversuche mit schwülstigen Gedichten, die in einer Literaturzeitschrift erschienen, von der ich das Glück habe, kein Exemplar mehr zu besitzen, wie er später schrieb. Auch als Reporter beim Daily Mail versuchte er sich:Ich war eine absolute Niete, der schlechteste Mann, den sie je hatten. Jedesmal, wenn ich auf eine Story angesetzt wurde, verirrte ich mich. Sie feuerten mich. Ich hatte es nicht anders verdient.

Chandler geht zurück in sein Geburtsland, die USA, arbeitet als Buchhalter in einer Molkerei, kämpft während des Ersten Weltkriegs in Frankreich, arbeitet ab 1919 bei einer Bank, später bei einem Ölsyndikat, wird Direktor von acht Ölgesellschaften und Präsident von dreien, die klein, aber wohlhabend sind. 1924 heiratet Chandler eine fast zwanzig Jahre ältere Frau, Cissy Pascal. Er führt ein stinknormales Leben, das ihn irgendwann auszuhöhlen beginnt. Sein Abtauchen in Suff und Verhältnisse wird immer exzessiver, und 1932, mit vierundvierzig, wird er gefeuert und steht auf der Straße.

Chandler läßt sich im Telefonbuch von Los Angeles als Schriftsteller eintragen. Er will es noch einmal wissen und beginnt, an den Geschichten für die Pulps zu ackern. Sorgfältig studiert er sein Vorbild Hammett, dessen Knappheit, Härte, Tempo, Direktheit und Authenzität er zwar nie erreicht, den aber an Schliff, Pointiertheit in den Dialogen und untergründigem Witz später übertrifft. Fünf Monate arbeitet Chandler an seiner ersten Story, schreibt sie immer wieder um. Als sie fertig ist, bekommt er einen Cent pro Wort, 180 Dollar. Trotzdem wird er kein Vielschreiber; er ist einer der wenigen Black Mask –Autoren mit hohem literarischem Anspruch, den er gegen die enggesteckten Vorgaben des Genres durchzusetzen versucht. Die Grenzen des Schemas durchlässig zu machen, ohne es selber zu sprengen, davon träumt jeder Schriftsteller, der für Zeitschriften und Magazine arbeitet, sofern er er nicht ein hoffnungsloser Schmock und Schmierakler ist.

Chandler braucht sechs Jahre, bis er die Pulps hinter sich läßt und zu einer eigenen Form findet. Dennoch greift er immer wieder auf seine alten Geschichten zurück, weidet sie für seine Romane aus und kombiniert sie neu, eine Methode, der er mit Hammett teilt bzw. von ihm übernommen hat.

Ein Jahr nach The Big Sleep erscheint Farewell, my lovely , in dem die Charakterzüge Philip Marlowes wesentlich ausgeprägter erscheinen: der romantische Held tritt sichtbar zutage, unter der gepanzerten Oberfläche steckt ein Moralist, einer, der sich vorgenommen hat, in der korrupten und kaputten Welt zu überleben, ohne dabei selbst korrupt zu werden. Ganz anders als Hammett idealisiert Chandler seine Hauptfigur, manchmal hat er Schwierigkeiten, sich beim Stilisieren zu bremsen. Sechs Marlowe-Romane hält Chandler den Weißer-Reiter-Kitsch und das Jesusmäßige in Schach, im letzten, dem kurz vor seinem Tod aus einem alten Drehbuch ausgeschlachteten Playback aber hat er nicht mehr die Kraft, gegenzuhalten, stürzt ab ins Rührselige und läßt Marlowe, den chronisch Unabhängigen, sogar in eine Heirat einwilligen – Chandlers Identifikation mit seiner Figur ging am Ende seines Lebens so weit, daß er an Marlowe Gutes tun wollte, was er selbst nach dem Tod seiner Frau so schmerzlich vermißte: Liebe, ein Heim und die Gewißheit, ein Leben zu teilen.

Vorher aber schrieb Chandler Bücher, in denen er die hartgesottene Detektivgeschichte in höchste sprachliche Form brachte. Unnachahmlich (wenn auch quälend oft versucht) sind seine Vergleiche. Er hißte ein Paar Augenbrauen, für die sich ein Bürstenfabrikant interessiert hätte. – Sie war eine Blondine, für die ein Bischof das Kirchenfenster eingetreten hätte Hunderte von Epigonen haben ihm hinterhergeschrieben und tun es heute noch. Chandler 1952:Man schreibt in einem Stil, der nachgeahmt, sogar plagiiert worden ist, und zwar bis zu einem Punkt, wo man anfängt auszusehen, als ahme man seine Nachahmer nach. Man muß sich also an einen Ort begeben, wohin sie einem nicht folgen können.

Er hat es geschafft, mit Pedanterie, Pingelköpfigkeit, Hartnäckigkeit und einem verzweifelten Festhalten an seinem eigenen Qualitätsbegriff, der sich in Marlowes Moralkodex widerspiegelt. Von seinen Überzeugungen weicht man nicht ab, weder für Geld und gute Worte noch aus Angst um Leib und Leben. Die Sprache, Chandlers Ein und Alles, ist auch Marlowes schärfste Waffe. Mit seinem unterkühlten und messerscharfen Humor versucht er, seine Gegner zu entwaffnen und zu unüberlegten Handlungen zu verleiten. Und wie sich Chandler über jeden Mangel an Qualität, ganz gleich, in welchem noch so geringen Bereich des täglichen Lebens angetroffen, erhitzen konnte, so läßt er Marlowe zwischen seinen Hauptbetätigungen immer mal wieder die protzige Aufmachung der Reichen und ihre verlogene Moral sarkastisch kommentieren oder über das ihm verhaßte amerikanische Fast Food herfallen: Wir fuhren in ein Autorestaurant, wo sie Hamburger machten, die wenigstens nicht ganz so schmeckten, daß der Hund sie verschmäht hätte.

Spott, Hohn und ein bissiger Humor waren die Mittel, mit denen sich Chandler/Marlowe gegen die oft übermächtigen Unerträglichkeiten des Daseins zur Wehr setzten. Den Zustand der Welt als persönlich gemeinte Beleidigung aufzufassen, ist vielleicht alles andere als weise oder philosophisch; zum Schreiben aber gibt es den richtigen Impuls. Chandlers Romane sind Reaktionen auf eine Welt, die den Bach runtergeht; als Beobachter aber war er so mikroskopisch genau, daß er seine moralischen Keulenschläge gegen das moderne Amerika detailliert und gezielt anbringen konnte. Daß er keine Fingerübungen, keinen wohlfeilen und gefälligen Schnickschnack produzieren wollte und konnte, zeigt sich auch in der zunehmenden Bitterkeit und Heftigkeit seines Spotts: es war ihm ernst mit dem, was er tat. Während sich die menschliche Ordnung in ihre Bestandteile auflöste wie ein Säufer, klagte Marlowe von der Welt, die zu durchschauen er klug genug war, unbeirrbar Respekt ein, obwohl er wußte, daß es ihn nicht gab.

Marlowe wurde in der Hawks-Verfilmung von The Big Sleep von Humphrey Bogart dargestellt, der in seiner physischen Präsenz und seiner Eindimensionalität als Hammett-Held Sam Spade viel überzeugender war. Chandler selbst war mit Bogart zufrieden, genau richtig, schrieb er, hätte sich aber als idealen Darsteller Cary Grant gewünscht. Der ist uns erspart geblieben, nicht aber Elliot Gould in einem 70er Jahre-Zeitgeist-Film von Robert Altman und auch nicht James Garner. Eine genaue Umsetzung Chandlers visueller, bildlicher Romansprache in die Sprache des Films fand nur in Dick Richards Farewell, my Lovely –Adaption von 1975 statt. Robert Mitchums Darstellung eines todmüden Marlowe, ohne Illusionen, aber mit zuviel Mumm in den Knochen, um einfach alles hinzuschmeißen, trifft die Atmosphäre des Romans im Kern.

Chandler selber arbeitete in den 40er Jahren in Hollywood als Drehbuchautor; er verdiente zeitweise bis zu 4.000 Dollar pro Woche, und die finanzielle Anerkennung seiner Fähigkeiten war ihm, nachdem es ihm in den Dreißigern so dreckig gegangen war, wichtig. Über die künstlerische Seite der Arbeit war er rückhaltlos deprimiert, das oberflächliche und voller Intrigen steckende Hollywood macht ihn mürbe; erst 1949 schaffte er es, sich mit The little Sister für alle erlittenen Demütigungen, denen er als perfektionistischer Schriftsteller im Filmgeschäft ausgesetzt war, zu rächen.

Es ist viel Mystifix über Chandler geschrieben worden, Helmut Heißenbüttel spekulierte: „Ich halte es für möglich, daß der Ruhm des Autors Raymond Chandler den des Autors Ernest Hemingway überdauert.“ Chandler, der Hemingway schon 1932 mit der Geschichte Bier in der Mütze des Oberfeldwebels brillant parodierte hatte, setzte seinem ehemaligen literarischen Vorbild auch das passende Denkmal. In Farewell, my Lovely redet Marlowe einen Polizisten so lange mit „Hemingway“ an, bis dieser entnervt fragt: Was ist dieser Hemingway eigentlich für ein Mensch? Marlowes Antwort: Ein Typ, der fortwährend immer wieder dasselbe sagt, bis man anfängt zu glauben, daß es gut sein muß.

Chandlers Bücher sind frisch und wie neu gemacht geblieben bis heute, Marlowes Attacken gegen die Polizei: Ich fürchte, das Leben ist zu kurz, um mit Aussicht auf Erfolg Anzeige wegen Körperverletzung gegen Polizeibeamte zu ertatten sind aktueller denn je, und Chandlers Sprache hat nichts von ihrem Glanz, von der Leichtigkeit, die soviel Kraft und Arbeit kostet, verloren. In The Long Good-Bye lief Chandler 1953 zur besten Form seines Lebens auf; der Fünfundsechszigjährige, dessen Lebensüberdruß und Ekel zunahmen, raffte seine besten Kräfte zusammen und vernähte kunstvoll alle Fäden, die in seinen bisherigen Geschichten lose geblieben waren. Es ist ein Buch über Freundschaft und Korrumpierbarkeit, Chandlers definitives Schlußwort, in dem er Marlowe mit allem ausstattet, was er zu geben hat: Einsicht, Witz, Aggressivität, Melancholie, Weichheit, Müdigkeit und den beharrlichen Willen, sich von den Verhältnissen, die so sind, wie sie sind, nicht kriegen zu lassen. Gegenüber Harlan Potter, einem Wirtschaftsboß, der ihn, auf die sanfte oder auf die harte Tour, zum Schweigen bringen will, bleibt Marlowe kühl: Vielleicht lassen Sie meine Gedanken doch besser meine Sache sein, Mr. Potter. Sie sind nicht sonderlich wichtig, natürlich nicht, aber sie sind alles, was ich habe. Und schafft, zum Thema Verquickung von wirtschaftlicher und politischer Macht, Polizei und Justiz, einen seiner schönsten Vergleiche: Er kauft sich nicht einmal die Commissioner und Staatsanwälte, hat er gesagt. Sie ringeln sich bloß immer in seinem Schoß zusammen, wenn er ein Nickerchen macht.

Am 26. März 1959 starb Raymond Chandler im kalifornischen La Jolla, alt, verbittert und krank an Suff, Einsamkeit und Nichtmehrschreibenkönnen. Daß er nach The Long Good-Bye noch das weichmeiernde Playback hinterherschob, ist schade, daß er Marlowe zum Pfeiferaucher machte –neben dem Tragen von Goldkettchen eine der größten Widerlichkeiten des modernen Lebens-, ist unverzeichlich. Sein Leben war eine ziemliche Quälerei, und davon, daß er sich beim Schreiben nicht geschont hat, profitieren wir heute noch. Chandler trank eimerweise Whisky; Marlowe stattete er mit ähnlichem Durst, aber besserem Geschmack aus: Gimlet , halbe-halbe Gin und Rose's Limettensaft mit gestoßenenm Eis war sein Drink. Erheben wir das Glas auf einen der Größten. Die Bar ist geöffnet.

Alle Zitate aus der Diogenes-Gesamtausgabe und aus der Chandler-Biographie von Frank MacShane, ebenfalls Diogenes.