„Schiebt Furcht und Mißtrauen beiseite!“

■ Die „Intifada“, der Aufstand der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten, beginnt die politische Szene in Nahost zu verändern. Der Aufstand wird zum Hauptthema des Wahlkampfs in Israel und erzeugt zugleich einen Handlungsdruck auf die Führung der PLO, neue Konzepte und politische Initiativen zu entwickeln.

Acht Monate Aufstand in der von Israel besetzten Westbank und dem Gaza-Streifen mit über 280 getöteten Palästinensern und weit mehr als eine Milliarde DM Kosten für die Besatzer haben die Palästina-Frage bisher noch keiner Lösung nähergebracht. Doch sowohl in den Parolen wie in den Formen des Protestes der Palästinenser wird deutlich, worum es nunmehr geht: Politische Konzepte müssen her, um den 40 Jahre blockierten Konflikt abbauen zu können.

Auf der Sonderkonferenz der Arabischen Liga zur Intifada in den besetzten Gebieten legte Anfang Juni dieses Jahres Bassam Abu Sharif, ehemals Sprecher der 'Volksfront für die Befreiung Palästinas‘ und heute Berater und Sprecher Jassir Arafats, ein Papier vor, das unter dem Titel „Aussichten einer palästinensisch-israelischen Lösung“ seitdem für erhebliches Aufsehen nicht nur in den Reihen der PLO sorgt.

Die Reflektionen des Journalisten Abu Sharif sind, oberflächlich betrachtet, ein in versöhnlichem Ton gehaltenes Friedensangebot an Israel. Vor allem die Ausgangsthese aber überraschte sowohl Palästinenser wie Israelis und nicht zuletzt auch die us-amerikanische Regierung. In einer völligen Umkehrung der bisherigen Einschätzung Israels und des Zionismus durch die politischen Analysen der PLO, spricht Abu Sharif von „dauerhaftem Frieden und Sicherheit“ als den eigentlichen Zielen Israels. Eben darin herrsche eine „umfassende Übereinstimmung“ zwischen den Palästinensern und den Israelis. Auf dieser Grundlage sei es darum auch möglich, Verhandlungen über die Zukunft eines friedlichen Nebeneinanders in zwei getrennten Staaten zu beginnen.

Derart versöhnliche Töne fanden, nachdem das Thesenpapier Ende Juni in der 'Washington Times‘ publiziert wurde, sogleich Anklang in Washington und Tel Aviv. Das US -Außenministerium zeigte sich „beeindruckt von diesem praktischen Beitrag zu einer rationalen Diskussion“ des Nahost-Problems und forderte von der PLO, die „positiven Aspekte des Artikels zur offiziellen Politik“ zu machen.

Während die israelische Regierung den „Ölzweig“ als Augenwischerei abtat und weiterhin vorgibt, die sogenannte „jordanische Lösung“ anzustreben, begrüßten mehrere Gruppen der israelischen Friedensbewegung die Initiative Abu Sharifs. Zum praktischen Verfahren des Friedensprozeßes schlägt Abu Sharif vor, daß nach dem Rückzug der israelischen Besatzungstruppen unter Aufsicht der Vereinten Nationen Wahlen in den besetzten Gebieten abgehalten werden sollten und die Bevölkerung selbst entscheiden möge, wer die politische Führung sein soll und wie die Regierungsform eines unabhängigen palästinensischen Staates aussehen wird.

Die PLO müsse nach Ansicht Abu Sharifs auch akzeptieren, wenn die Palästinenser andere Führer als die Repräsentanten der PLO wählten. Mit dem Konzept einer Zwei-Staatenlösung und einem vorausgehenden Referendum nimmt Abu Sharif die übergeordneten Ziele der Intifada auf und fand unter den Führern der Westbank und des Gaza-Streifens auch weitgehend Zustimmung. Der Direktor des Zentrums für arabische Studien in Jerusalem, Feisal Husseini, erklärte, es handele sich bei dem Vorschlag um einen wichtigen Schritt, der die USA und Israel auf den Prüfstand stelle. „Diese Vorschläge weichen nicht von den Beschlüssen des Palästinensischen Nationalrats ab und sind voll und ganz mit den Friedensplänen - vom sogenannten Breshnjew-Plan bis zu den Resolutionen des letzten Gipfels von Algier - vereinbar“, meinte Husseini, der jedoch alle Friedensbemühungen an den Israelis scheitern sieht: „Von der 'Janus-köpfigen‘ Regierung ist nicht viel zu erwarten...die Friedensbewegung andererseits fordert immer wieder ein klares Programm von uns. Sobald es dann vorliegt, wird es hart attackiert.“

Mit wütenden Angriffen auf den Autor reagierten hingegen die mit Syrien verbündeten Palästinenser-Gruppen, allen voran die Fatah-Dissidenten unter dem Oberst Abu Mussa. Ein „neuer Sadat“, ein „Kapitulationist und Verräter“ habe diese Schrift verfaßt, der mit einem ähnlichen Schicksal rechnen müsse wie der ermordete ägyptische Präsident. Das Dokument unterschlage den „aggressiven und expansionistischen Charakter des Zionismus“ und sei reiner Opportunismus gegenüber den USA, kommentieren die syrischen Zeitungen. Arafat selbst hat bisher darauf verzichtet, sich uneingeschränkt hinter das Papier zu stellen, um den Entwurf zur offiziellen PLO-Politik zu erheben.

Wenn das politische Kalkül des Autors darin bestand, die durch die Intifada sensibilisierte Weltöffentlichkeit für einen propagandistischen Vorstoß besonders auf die westliche Welt zu nutzen, trägt Abu Sharifs Initiative inzwischen unerwartete Früchte: Vor gut zwei Wochen trafen sich Delegationen aus allen Gruppen innerhalb der PLO in der rumänischen Hauptstadt Bukarest, seit langem ein beliebter Treffpunkt für nicht- oder halböffentliche Gespräche zwischen den Konfliktparteien des Nahost-Problems.

Zeitgleich weilte auch eine israelische Regierungsdelegation in Bukarest. Von beiden Seiten wird heute zwar bestätigt, daß die Rumänen dann Unterhändler spielten, doch über das, was die eine der anderen Seite angeboten hat, widersprechen sich beide. Abu Sharif erklärte am Sonntag in Bagdad, der israelische Ministerpräsident und Hartliner Shamir hätte der PLO die Übernahme der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten unter der Bedingung eines sofortigen Endes der Intifada angeboten. Grundidee Shamirs sei dabei, die in den Camp-David-Verträgen vorgesehene sogenannte „Autonomie der Personen“, nicht aber die nationale Souveränität der Palästinenser zuzulassen.

Umgekehrt behauptet Shamir, die PLO hätte über die rumänischen Vermittler seiner Regierung Gesprächsbereitschaft signalisiert. Er wolle aber nicht mit der PLO reden. Shamirs Energieminister Schachal von der Arbeiterpartei bestätigte allerdings die Version Abu Sharifs. Beobachter nehmen das Hin- und Herschieben der Verantwortung zwischen Likud-Regierungsmitgliedern und Ministern aus der Arbeiterpartei als Zeichen dafür, daß die besetzten Gebiete zum Hauptthema des Wahlkampfs in Israel werden. Politische Absicht und die Bereitschaft zu Verhandlungen lässt darin kaum vermuten.

G. Baltissen / A. Wollin / thore