UNGEFÄHRE GEFÜHLE

■ Schwimmübungen in der Avantgarde

Ein voller Erfolg war die gestrige Eröffnung der Ausstellung lettischer Kunst in der Kunsthalle. Selbst der Direktor Ruckhaberle mußte zugeben, daß hier das PLansollniveau der Kunsthallen-Eigenproduktionen sichtlich überschritten sei. Eine Kunstausstellung richtig prima zu finden, fällt derzeit einigermaßen schwer. Man kränkelt an der Unfähigkeit zur Leidenschaft. Und die kulturellen Bildungsanstalten müssen zur Hirnverstopfung beigetragen haben. Die Verdumpfung des Kunstkonsumenten hat Methode. Manchmal spielt man auch mit, um nichts anderes mitzukriegen. In solch kariösem Bewußtseinszustand bricht eine Ausstellung „lettischer Avantgarde“ ins Weiße im Auge. EastBam, WestBam. Bum. Die BZ meldete in ihrer Rubrik „BZ-Galerie“ unter der Schlagzeile „Der Hippie-König kommt aus Lettland“ den Ausstellungstitel „Riga“.

Avantgardisten sind wir, weil wir Kunst als Politik als Strategie wörtlich nehmen.(Hardijs Ledins)

Wie sprechen die Letten eigentlich - indogermanisch, sanskrit, 3000 Jahre her und so? Ist es da nicht meistens Winter? Was rührt der Name der „Werkstatt zur Restauration nie verspürter Empfindungen“ auf, daß man kindisch ergriffen in einer Multimediarauminstallation stehen bleibt und auf weiße Kissenpäckchen stiert, die von der Decke herunterhängen? Läßt sich daran die Kombination zwischen kalifornischer High-Tech-Philosophie und Zen-Buddhismus erkennen? „Der gemeinsame Nenner der ganzen Evolution ist das aggressive Verhalten gegenüber der Natur. Hier sehe ich den Zeitpunkt gekommen, den ganzen Zyklus, an dessen Ende wir uns zur Zeit befinden, zu verändern“ (Boiko von der „Werkstatt...“) Ein Anfang als solcher gehörte bereits ins Terrain der Utopie, deshalb gäbe es nur Veränderung, Transformation..., „denn unser System zerfließt, seine Grenzen kann man nicht identifizieren“. Daher ist die Losung der „ungefähren Kunst, daß das Ungefähre die humanste Eigenschaft des Menschen“ sei. Können wir folgen?

Und können wir vor allem die von der „Werkstatt“ anvisierte Aufgabe erfüllen, uns etwas zu wünschen statt zu verlangen, etwas zu verstehen?

Man kann sich trudeln lassen, zwischen hyperrealistischen Ironik-Ikonen und Serien von „Mein erster Volksempfänger“, zwischen exzessiv theatralischen Graphiken und schneeverwehten Videoaufzeichnungen. So erscheint die unmäßige Quadratmetergröße der Monochromöle in Lachsersatzrot völlig plausibel, und geradezu zwangsläufig als Fortschreibung der Riesengraphiken aus einem Zyklus „Freie Auswahl“. Die holzgeschnitzten Helden der Arbeit rammen den Spaten am Neongriff mit monumentalem Selbstverständnis in die Kunsthallenluft, daß die Muskeln splittern. Brachial ohne Rohheit, „synthetisierend, harmonisierend“, ohne Gewalttätigkeit - konstruktiv.

Ein Hippie-Aktionist exhibitioniert sich in Fotopinnwänden mit „Body-Art“, spontaneistischen Häppenings, am Strand, bei Friseurritualen (medial inszeniert, bei Waitz am Kudamm) und wird hier in Berlin seine Arbeit mit behinderten Jugendlichen treiben.

Ein Ethnologe auf dem Speicher konduliert mit skelettierten Täubchen, die auf goldenen Nägeln gespießt die Spindel des seidigen Fadens schmücken. Rostige Eisenplatten führen das Wasser in ihren Mulden und lapidar verfallen sie dem musealen Wundbrand. Bescheiden erinnern Fotografien unter Plastikfolie an die Aktion „Gang nach Bolderaja“, Dokumente nichtsichtbarer Spuren vielleicht. Eine Dame im Patchwork -Kostüm rückt ihre Ami-Sonnenbrille zurecht. An der Leine zerren zwei kopulierende Köter, über denen sich die Kontur eines Hirsches herausschält. Auf Betonrädchen verflüchtigt sich der fremdverantwortete Alltag ins Spiralistische. Mit Haarbüscheln sind Steine, Eisenplatten und Holzpfähle verfugt.

Ein Labyrinth nie verspürter Bildnisse - etwas wünschen, etwas wünschen, etwas wünschen... „do it in the mix“.

Vogel

Riga-lettische Avantgarde, Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle, Budapester Straße 42, Di-So 18-20, Mi 10-22 Uhr, bis 24.8.

Fotos von Indulis Bilzens

Zitate aus dem Gespräch von Eckhart Gillen mit Juris Boiko, Inguna Cernova und Hardijs Ledins von der „Werkstatt“, abgedruckt in „Niemandsland“, Heft 5