„Setze mich in Erstaunen“

■ Seit 38 Jahren filmt Kubrick gemäß seinem Lieblings-Cocteau-Zitat, heute hat er Geburtstag. Im „Modernes“ läuft eine Retrospektive. Noch zu sehen: „Lolita“ (28./31.7., 22.30) und „2001“ (bis 27.7., 20.00)

Stanley Kubrick, geboren am 26. Juli 1928 in New York. Mit siebzehn arbeitete er als Photograph für „Look“. Nach drei Dokumentarfilmprojekten drehte er nur noch Spielfilme. U.a. 1955: „Killer's Kiss“, 1957: „Paths of Glory“, 1961: „Lolita“, 1963: „Dr. Strangelove...“, 1968: „2001 - A Space Odyssey“, 1971: „Clockwork Orange“, 1975: „Barry Lyndon“, 1980: „The Shining“, 1987: „Full Metal Jacket“. Heute, am 26. Juli 1988 wurde Stanley Kubrick 60 Jahre alt.

„Hello Soldier, ready to kill more Germans?“ Wieder und immer wieder. Schlamm, Trümmer, Uniform-Leichen wohin das Auge blickt. Es regnet in Strömen. Kirk Douglas keucht aus dem Schützengraben, die Kamera fährt im Rückwärtsgang vor ihm her. Sturmangriff. Umschnitt. Die Kamera nimmt Douglas‘ Perspektive ein. Bombentrichter, Leichen, Schmutz. Vorwärts, nur vorwärts. Die atemlose Kamerafahrt geht immer in die gleiche Richtung, nur die Perspektive ist jeweils um 180 Grad gewendet. Ein Blick aus zwei Augenpaaren also.

Eine kahlgeschorene Rekrutentruppe hastet mit stakkato -artigen Laufschritten singend eine Kasernenstraße entlang. Die Kamera filmt rückwärtsfahrend ihre Gesichter und Oberkörper in Nahaufnahmen. Im Rhythmus der Stiefel klingt es: „This is my rifle, this is my gun. This is for fighting, this is for fun.“

Diese zwei Szenen aus Kubrick-Filmen sagen einiges über das Schaffen des amrikanischen Regisseurs aus. Ebenso wie in „Path of Glory“ ist das Filmthema in „Full Metal Jacket“ der Krieg. Zwischen beiden Szenen liegen exakt 30 Jahre, doch Sujet und filmische Handschrift haben unmittelbar miteinander zu tun. Krieg und Gewalt, die destruktive Irrationalität menschlichen Handelns sowie des Behandeltwerdens sind immer wiederkehrende Aspekte des Kubrikschen Oevres.

„Jeder ist von der Gewalt fasziniert. Schließlich ist der Mensch

der unbarmherzigste Killer, der je auf der Erde jagte“, sagte der Regisseur einmal zu Newsweek. Diese Einstellung ließ sich in seiner Arbeit mit seinen handwerklichen Prinzipien verbinden. Er war immer davon überzeugt, daß Form und Inhalt eines Kinowerkes in unmittelbarer Harmonie zueinander stehen müssen. Dabei gab er dem Inhalt grundsätzlich den Vorzug. So konnte die Kamera oft unterstützen, was die Schauspieler imstande waren zu leisten. (Das genaue Gegenteil sind die heutigen Video -Clips).

Die Kriegssituation sorgte für eine dramaturgische Dichte, in der die handelnden Figuren in einer kurzen Zeitspanne unerhört viel leisten mußten. Die filmische Ausarbeitung der Entwicklung menschlicher Charaktere geschah mit überdeutlicher Prägnanz, somit konnte der Höhepunkt ohne Umwege angesteuert werden.

Die eingangs beschriebenen Szenen sind ebenso repräsentativ für die spezifische Filmsprache des Amerikaners, der in England lebt und arbeitet. Kamerabewegungen, die synchron mit den Darstellern in einer Richtung verlaufen, sind Bestandteile der charakteristischen Handschrift Kubricks. Er selbst nannte es die Vereinigung „des physischen und des emotionalen Raumes, die sich gegenseitig kommentieren“.

Einige berühmte Szenen aus seinen Filmen sind in dieser Weise, oft im steady-cam Verfahren mit abrupten Umschnitten, entstanden. Kubrick selbst ist stolz auf die Re -Identifizierbarkeit vieler Einstellungen. Wer erinnert sich nicht an die irrsinnige Psychedelik-Fahrt des Astronauten Bowman durch irisierende Lichtreflexe und - kaskaden in „2001“. Oder die halsbrecherische Dreiradfahrt des kleinen Danny Lloyd durch die langen Flure des menschenleeren Hotels Overlook in „Shining“. In „Clockwork Orange“ jagen Alex und seine Droogs im gestohlenen Sportwagen durch eine Allee von Bäumen und Hecken, genau wie schon 16 Jahre vorher der Boxer

Davy Gordon bei seiner Alptraumfahrt in „Killer's Kiss“.

Die Auswahl dieser Korridorkompositionen ließe sich beliebig fortführen, und doch sind sie nur ein Aspekt wiederkehrender filmischer Mittel im Gesamtwerk Kubricks. Die fünf wichtigsten Werkzeuge beim Filmen sind für ihn genau in dieser Reihenfolge: Bildeinstellung, Musik, Montage, Schauspieler-Emotionen und erst dann die Dialoge. Seine unvergeßlichsten Szenen bestünden für ihn in der Hauptsache aus Bild und Musik, erklärte er einmal. Beispielhaft dafür kann der inzwischen zum sogenannten „Kult„-Film avancierte „2001“ stehen. Erst nach einer halben Stunde (ursprünglich gehörte noch ein herausgeschnittener 10 -Minuten-Prolog zur Anfangssequenz) fallen die ersten vier Worte. „Wir sind da, Sir“, sagt eine Weltraumstewardess, und danach beherrscht wie vorher Musik den akustischen Eindruck. In zwei Stunden und vierzig Mi

nuten Film gibt es nur vierzig Minuten Dialog.

Es bleibt der Eindruck einer Bild-Ton-Beziehung haften. Der Strauß'sche Donauwalzer zur Untermalung der Drehbewegung einer kreisrunden Raumstation ebenso, wie die elektronischen Beethoven-Adaptationen von Walter Carlos in „Clockwork Orange“ oder der Schlager „Try a little tenderness“ als zynisch sexistische Überhöhung des Phallussymboles Bomber B 52 in „Dr. Strangelove“.

Stanley Kubrick hat nie versucht, gängigen Trends zu entsprechen oder Marktlücken in künstlerischer Hinsicht auszunutzen. Es war vielmehr sein Ziel, seine eigenen Grundsätze zu perfektionieren und konsequent anzuwenden. Wurde er in seiner Arbeit behindert, so entzog er sich diesen Einflüssen. „Lolita“ sollte eigentlich in Amerika entstehen, doch die heile-Welt-prüde Zensurbehörde hätte seine Grundsätze einer Kino-Liebesge

schichte Anfang der 60er nie durchgehen lassen. Er war davon überzeugt, daß eine Love-Story entweder im Tod oder der Trennung der Liebenden enden müsse. Ferner dürfen beide nie auf Dauer vereint sein oder gar den Respekt ihrer Familien genießen. Insofern schuf er in Übereinstimmung mit seinen eigenen Regeln eine sehr moderne Liebesgeschichte allerdings in Großbritannien.

Seit 38 Jahren dreht Kubrick Filme, in letzter Zeit hatte er Viel-Filmerei aufgrund seiner guten Reputation nicht mehr nötig. Er erhielt zwar nie einen Regie-Oscar, doch dieser Umstand erscheint fast wie ein ungebrochenes Rückgrat gegenüber den niederen Kniefällen anderer vor der Kino -Kommerzialität. Denn eines steht für den 60jährigen felsenfest: „Das einzig Wichtige beim Filmemachen ist, die Dinge erst dann für die Kamera einzurichten, wenn es überhaupt etwas gibt, was sich lohnt zu filmen.“

Jürgen Francke