DIE WELT IM ZAHNPUTZBECHER

■ „Disneyland after dark“ im Treptower Park

Das konnt‘ ja auch nichts werden, die waren ja alle noch ganz fertig von Brucie...“, sagt A., und die muß es wissen. Wir sitzen in einem einschlägigen Gastronomiebetrieb im Friedrichshain, einem dieser Lokale, wo sich die Kellnerin noch auf die Kunst der nonverbalen Kommunikation versteht, wo ein Kopfnicken reicht, eine neue Runde Zahnputzgläser auf den Tisch zu zaubern. Die Stimmung ist wie in einem viel zu engen Wohnzimmer bei Verwandtenbesuch, und der Geräuschpegel entspricht dem einer Großbaustelle. Ein Rudel Starkstromtrinker am Nebentisch versenkt langsam die Zähne in die Resopalplatte, und in der Ecke diskutiert ein arbeitsloser Fotograf in braunen Cordhosen mit dem Hartbrenner im Blaumann. Keiner schenkt uns einen dieser wunderbaren glasigen Blicke, lediglich als ein Westmark -Schein unauffällig über den Tisch knistert, scheint das Geräusch einiges Interesse zu verursachen. Man hört hier die Ameisen trommeln.

Wir hatten es tatsächlich geschafft, unser gesamtes Eintrittsgeld umzusetzen. Die Curry- und Bockwürste schwimmen seelenruhig in einer riesigen Pfütze Spezial-Pils, und sogar die Citro scheint, gemeinsam mit dem Vanille-Eis, irgendwie damit klarzukommen. „Kriegt Ihr zu Hause eigentlich nichts zu essen?“ wundert sich einer der Freunde, aber wie gesagt, die Würste sind einfach besser. T. bekommt seinen Kirsch-Whiskey mit gespreizten Kellnerfingern serviert, und unsere Gastgeber machen Gesichter wie ein zerrissener Ausreiseantrag. Folgsam nehmen wir die Augen von der Speisekarte - „Die Küche ist geschlossen!“ -, und langsam beginnt man über dies und jenes zu reden.

Ein Tennis-Match mit jeweils drei Leuten pro Seite. „Der Springsteen-Auftritt hat wieder Sturzbäche von Glasnosts und Perestroikas in den Westzeitungen losgetreten...“ „War'n Scheiß-Konzert, viel zu leise.“ Die Kommentarspalten zerbröseln zu Hühnerkacke. Die Mieten. Ungarn. Man könnte doch mal... Vielleicht bald... können jetzt sogar für zwei Tage kommen. Filme. Joe Cocker. Gesprächsfetzen schlagen wie Bran‘ztdungs‘ztwellen an die Kaimauer. Geschichtenerzählen ist schwierig, zu viele Zacken drin. Ein gemeinsamer Bekannter in Leipzig. „Wieso seid ihr eigentlich gekommen?“ „Na wegen Disneyland after dark. Lieblingsband. Aus Dänemark.“ „Einfach so...“ Ja, einfach so, und um Würste zu essen und Bier zu trinken. Noch ein Weilchen wogt der Kampf „Grilletas gegen Kebabs“, dann sinnieren wir wieder, warum das Konzert mit der Lieblingsband so beschissen war.

Auf dem Hinweg durch den modrig-grün riechenden Treptower Park, zur „Insel der Jugend“, vorbei an einer Horde Blauhemden, FDJler, eine Kreuzung aus Pubertät und Blockwart von morgen, über die alte Brücke auf die Insel, Berliner Rocksommer, Eintritt 4,05 Mark. Enorme Übertragungswagen der Deutschen Post, auf der Insel gibt's nur Citro zu trinken, ein DT64-Moderator erklärt Rockgeschichte, die einzigen, die sich freuen, sind die Mücken.

„Hat keinen guten Ruf, das Ganze“, erklärt der Einheimische und lästert über die „Kommerzhaie“ mit selbstgebatikten T -Shirts und Ansteckern. Alles ist wie überall und doch wieder ganz anders. „Was machen die vielen Bullen hier?“ „NVA. Die haben nur ein paar Stunden Ausgang, müssen ihre Uniform anbehalten.“ Einige schwanken bedenklich, die meisten der Uniformierten bewahren Haltung. Unter ihren Mützen dampft es. Das Gras ist feucht, vor der Bühne steht ein Wachsfigurenkabinett deutsche Jugend.

Typ Locker kommt auf die Bühne und kündigt „Disneyland after dark“ an, “... die Texte greifen Umweltthemen und gesellschaftliche Fragen auf“, das wußten sie wahrscheinlich selbst noch nicht. Die grünen Jungs in buntem Outfit fangen pünktlich an, etwas unsicher, wie eine Oberstufenkapelle bei der Abi-Fete. So jung und schon so heftig. Die Stehparty vor der Bühne bleibt unberührt, verwirrt, vielleicht enttäuscht. Zwischentöne versickern in breiigen Köpfen, wenn schon eine Westband, dann soll sie doch anders klingen. Die Ironietirade gegen Heerscharen von Rockmusikern, die von Bars im mittleren Westen und New York träumen, verhallt ungehört.

Fassungslos stehen wir zwischen dem angeblich begeisterungsfähigsten Publikum der Welt. Der Bassist tanzt auf den Boxentürmen, alleine. Bei der Stelle zum Mitsingen antwortet der Gesangsverein nach Feierabend, und die Dänen greifen sich in die langhaarigen Köpfe. Vor zwei Wochen, in Roskilde, haben sie in einem Meer von erhobenen Fäusten und fliegenden Beinen gebadet, hier ist man an ihnen so interessiert wie eine Blümchentapete an einer Stubenfliege.

„Der Call of the Wind“ versickert in einem Sumpf von Nyltest-Hemden, die Citro macht einen rülpsen und wir verschwinden, rechtzeitig bevor die heimischen „Silly“ auf die Bühne kommen, auf ausdrücklichen Wunsch der Einheimischen. Im Parkrestaurant ist pünktlich um 20.45 Uhr Feierabend und natürlich bekommt man um 20.47 Uhr kein (ohnehin lauwarmes) Bier mehr, also sind wir zum Friedrichshain...

„Geht ihr morgen zu Springsteen?“ „Wieso, das war doch vorgestern...“ „Nein, morgen spielt er bei euch.“ „Ach ja?“ „Ja, in der Waldbühne.“ „Disneyland after dark hat bei uns noch nie gespielt, so 'ne Klasse-Band, ich versteh's nicht...“ „Die waren halt alle noch fertig von Brucie...“ Die letzte Runde Becherchen taucht auf, der Taxifahrer schimpft darüber, daß er jede Nacht 220 Mark einfahren muß, die Frau vom Zoll hat sich in den Inhalt unserer Hosentaschen verliebt, und dann sind wir wieder hüben.

Ein vorletztes Bier am Heinrichplatz. Vor dem „Elefanten“ erklärt ein badischer Irokese die Revolution, die offensichtlich darin besteht, eine todmüde Kellnerin zu terrorisieren. Am liebsten hätte ich ihn totgekotzt, aber aus irgendwelchen Gründen sind wir dann wie Astronauten bei der ersten Mondlandung weitergestapft, zu einem dieser Läden, in denen man schwarzgekleidete Tiefkühlkost an schwarz gestrichenen Tresen bewundern kann...

Bruno Breit