: Geisterpolitik
■ Von mentalen Teddybären und geisteswissenschaftlichen Bejahungshelfern
Norbert Bolz
Der Geist der Geisteswissenschaften heißt Restauration. Sie verstehen sich selbst als Museum verlorener Herkunftswelten und betreiben „Altbausanierung im Reiche des Geistes“. So hat es Odo Marquard, der pfiffigste Apologet seiner Zunft, genannt. An dem in ihm radikal gewordenen Biedermeier müssen sich alle messen, die die Geisteswissenschaften für das Projekt der Aufklärung und Emanzipation retten wollen. Ein Vortrag in diesem Sinne könnte lauten: Um einen Marquard von links bittend! Den will ich nicht halten. Vielmehr soll im folgenden der politische Index des neuerlichen Hantierens mit dem Geist bestimmt werden.
Die Konjunktur der Geisteswissenschaften ist als tödliche Abrechnung mit den Sozialwissenschaften geplant, deren kritische Theorie der Gesellschaft begriffliche Mittel bereitstellte, um das faschistische black hole der deutschen Geistesgeschichte zu erforschen. Dabei wurde Kritische Theorie zum Tribunal gegen die Vätergeneration. Diese antwortet nun auf die Tribunalisierung mit einer Psychoanalyse der Ankläger: Die von der Studentenrevolte manifestierte Kritik sei nichts als nachträglicher Ungehorsam, weil der antifaschistische Ungehorsam von den Vätern versäumt worden sei.
Derart Positionen des kritischen Bewußtseins ironisch umzukehren, ist Marquard unermüdlich. Waren die Negationen der Kritischen Theorie gegen den Konformismus der Adenauer -Zeit gerichtet, so erscheint dieser Protest seinerseits in der Perspektive eines radikalisierten Biedermeier als „Negationskonformismus“. Doch diese Sucht, Nein zu sagen, ist nicht nur eine Geistesstörung deutscher Studenten nach dem Nationalsozialismus - Marquard sieht hier eine prinzipielle Gefährdung der Moderne, und zwar gerade durch ihren Erfolg: Angesichts einer immer besser werdenden Welt invertieren die Menschen das Negative, weil sie nicht ohne Feinde leben möchten; eine Kultur, die der Welt das Feindliche nimmt, wird selbst zum Feind. Die kritischen Bewußtseine wollen sich nicht mit einer Welt versöhnen, die zugleich subjektiv immer fremder und objektiv immer freundlicher wird. Deshalb rufen sie ihr Nein in die Welt. Ihr Ahnherr ist der Gnostiker Marcion, der erstmals die vorhandene Welt negativierte, um sich seine Weltfremdheit eschatologisch gutzuschreiben.
Nun sind wir keine Gnostiker mehr und warten nicht mehr auf die Letzten Dinge. Doch in Form von Geschichtsphilosophien haben uns die Meisterdenker immer wieder einen „mentalen Teddybär“ als Trost in eine wachsend unvertraute Welt mitgegeben. Es ist nun das Versprechen der Geisteswissenschaften, den tribunalisierten Menschen von den Zumutungen der Geschichtsphilosophie zu entlasten. Ihre kleinen Sorgen und Pensen sollen als „Mini-kat-Echon“ gegen das absolute Nein der kritischen Bewußtseine fungieren. D. h.: Entlastung durch Miniaturisierung der Fragen und Pluralisierung der Sinnantworten.
So bieten die Geisteswissenschaften Marquardscher Prägung auch eine Theorie der Moderne. Von Fortschritt kann sie nicht mehr, von Krise will sie nicht mehr sprechen. In Äquidistanz zu beiden Begriffen, die dem neuen Biedermeier den Spaß zu verderben drohen, erscheint nun der neue Schlüsselbegriff: Kompensation. Nicht Gutmachung sondern Ausgleich für die Übel - im Sog dieses Kerngedankens der Leibniz-Theodizee arbeiten die Geisteswissenschaften an der Legitimierung der Neuzeit.
Geisteswissenschaften kompensieren die Entfremdung der modernen Welt durch Strategien ihrer Reauratisierung; die rationalistische Entzauberung soll durch eine ästhetische Ersatzverzauberung erträglich gemacht werden. Diese Zauberkraft der Geisteswissenschaften heißt „erzählen“. Dem in Prozessen der Versachlichung entblößten Menschen soll suggeriert werden, er sei zugleich in Geschichten verstrickt - kleine Sorgen als Mini-Kat-Echon, das die Mächte geschichtsphilosophischen Protests und posthistorischer Erstarrung niederhalten soll. Doch diese „erzählte Welt“ der Geisteswissenschaften ist eine Bibliotheksphantasie. Sie ästhetisiert die Tradition, um sie, in handgreiflicher Legendenform, den orientierungslosen Zeitgenossen als Identifikationsschema anzubieten. Odo Marquard ist ein treuer Schüler Joachim Ritters, dessen Antiprinzip er „hermenueutischen Hypolepsis“ den Vorrang verstehenden Anknüpfens an Überlieferungen und Usancen vor allen sich radikal, prinzipiell und fundamental gebenden Gedanken betonte. Nichts anderes meint Marquards „Abschied vom Prinzipiellen“. Wer ans Übliche anknüpft, entlastet sich vom Absoluten und genießt die Schadenfreude, daß die Beweislast beim Veränderer liegt. Die Philosophie radikaler Endlichkeit nimmt Abschied vom Prinzipiellen, weil das Leben zu kurz für es ist. Wir leben aus Kontingenzen und deshalb müssen wir hypoleptisch leben. So folgt aus dem vita brevis das amor fati: Gerade unsere Menschlichkeit verpflichtet uns auf Fatalismus. Und solches Leben aus dem Geist der Geisteswissenschaften wird von keinem Nein befleckt, denn sein Medium: das fatal Kontingente, ist negationsresistent.
Hier stoßen die Geisteswissenschaften auf die Grenze ihres Namens. Nicht nur, daß der Spott über ihre eigentümliche Wissenschaftlichkeit berechtigt ist - auch der prominente Teil ihres Namens: Geist, läßt sich eigentlich nur durch Pluralisierung retten. Im Grunde beschwört Marquard denn auch die Unvermeidlichkeit der Geisterwissenschaften. Denn ein Denken, das die Philosophie auf Mythen und den Menschen auf Metaphern verpflichtet weiß, kann den Anspruch eines Einen Geistes (und sei es des objektiven) nicht anerkennen. Hinter der Formel von der polymythischen Gewaltenteilung steckt das Programm einer Ontologisierung der balance of powers. Überhaupt ist die Diffusion von Balancemodellen eine Grundstrategie liberalistischer Geistespolitik; sie zielt auf Neutralisierungen. Im neutralen Raum der Geisteswissenschaften wird der bürgerliche Gelehrte fürs Tribunal des kritischen Bewußtseins unbelangbar; gegen dessen geschichtsphilosophische Zumutungen richtet er seinen Kampfbegriff 'Pluralisierung‘. Für Sicherheit am Arbeitsplatz Bibliothek sorgt er, indem er die Texte durch unendliche Interpretationen zähmt; das nennt man Hermeneutik.
Marquard überträgt hier das (von Carl Schmitt zur großen Neuzeitlegende stilisierte) Trauma des konfessionellen Bürgerkriegs auf das „Sein zum Text“. Mit dem wahrheitsneutralen Antiprinzip der absoluten Uminterpretierbarkeit befrieden die Geisteswissenschaften den hermeneutischen Bürgerkrieg um den absoluten Text. Im polysemisch gezähmten Text ist jeder Wahrheitsanspruch neutralisiert; dafür ist er unendlich auslegbar. So fahren die Geisteswissenschaften dem Marxismus als Retourkutsche entgegen: Hieß es einmal, es käme darauf an, die Welt zu verändern, nachdem die Philosophie sie immer nur verschieden interpretiert habe, so antwortet Marquard, man habe die Welt immer nur verschieden verändert und es komme darauf an, sie zu verschonen. Das ist fröhlicher Quietismus. So inaugurieren die Geisteswissenschaften das Zeitalter der hermeneutischen Neutralisierungen: interpretierendes Verschonen der Welt - statt ihrer geschichtsphilosophisch initiierten Veränderung. Plausibel wird dieser Imperativ des anders Interpretierens immer dann, wenn die Folgelasten von Veränderungen zu groß scheinen. Dann verpflichtet uns die Hermeneutik als „Kunst der Schonstellung“ auf die Herkömmlichkeiten und Üblichkeiten.
Hier liegt eine entscheidende Pointe der Marquardschen Apologie des Ohnehinseienden: sie suggeriert Modernität als Üblichkeit. Diese Definition ist modern, weil unbedingt neu. Üblicherweise mämlich definiert man Modernität (seit Baudelaire) durch unbedingte Neuheit. Mit einem Wort: An Stelle der üblichen Definition der Moderne durch Neuheit setzt Marquard eine neue Definition der Moderne durch Üblichkeit. Damit sind wir in die verkehrte Welt der Geisteswissenschaften eingetreten: Trägheit erscheint als eigentliche Progressivität und methodische Antiquiertheit als Königsweg zu dem, was wahrhaft an der Zeit ist. Jezt wird deutlich, worauf die Identifikationsangebote der Geisteswissenschaften zielen: auf eine Versöhnung des Lesers mit seiner eigenen Bürgerlichkeit. Durchs Kaleidoskop dieses neuen Historismus betrachtet, zerfällt unsere Welt in bunte Bilder und endlose Geschichten, in denen wir, wie der kleine Bastian, selbst vorzukommen scheinen. Und auch auf dem Medaillon des geisteswissenschaftlichen Phantasien steht die Inschrift: Tu, was du willst!
Mit großartiger Konsequenz treibt Marquard die Geisteswissenschaften immer tiefer in den Quietismus hinein, bis sie als Antipoden kritischer Gesellschaftstheorie erkennbar werden. Er spricht ihnen Mut zu, sich als das zu bekennen, was sie schon immer waren: „Akzeptanzwissenschaften“ - die große Schule des Jasagens zur Moderne der Üblichkeiten. Und wenn auch jeder längst weiß, daß die Geisteswissenschaften ein Dienstleistungsgewerbe wie andere sind, so ist es doch Marquard vorbehalten geblieben, auszusprechen, welchen Dienst sie uns leisten - nämlich „Bejahungshilfe“.
Die Geisteswissenschaften wurden als Vehikel einer inneren Emigration aus der entzauberten Welt konzipiert; ihre Signatur ist das Biedermeier. Historische Expeditionen auf dem imaginären Kontinent des Menschengeistes werden dem Bildungsbürgertum als Politikersatz offeriert. „Das universale Mitfühlen der historischen Werte, die Freude an der Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Erscheinungen“, hat Wilhelm Dilthey noch in aller Unschuld als „eigenste Fähigkeit des deutschen Geistes“ gerühmt. Weil man es nicht mehr zur politischen Erfahrung bringt, verklärt man das „Erlebnis“ zur „Urzelle der geschichtlichen Welt“. Das heißt im Klartext: Ästhetisierung der historischen Erkenntnis.
Mit Wissenschaft hat all das nichts zu tun. Ethnologie, Psychoanalyse und Linguistik haben ja zu gleicher Zeit, als Dilthey die geschichtliche Welt in den Geisteswissenschaften aufbaute, diesen eine dreifache narzißtische Kränkung zugefügt: der Mensch, die Geschichte, der Geist - es gibt sie nicht. Seither haben die Geisteswissenschaften ihren Namen nur noch per antiphrasim. Erst Marquard hat sie beim Eigennamen genannt: Transzententalbelletristik.
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