Etappensieg über Berg-Karabach

■ Gorbatschow setzt sich vorläufig durch / Generalstreik in Berg-Karabach offensichtlich beendet

Moskau (afp) - Bei der Regelung des Nationalitätenkonflikts im Kaukasus konnte der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow am Montag einen ersten Etappensieg davontragen. Ohne Rückgriff auf Gewalt gelang es ihm, die Bevölkerung der zu Aserbeidjan gehörenden, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnten autonomen Region Nagorny-(Berg-)Karabach zur Beendigung ihres zweimonatigen Streiks zu bewegen, mit dem sie eine Angliederung ihrer Enklave an Armenien ertrotzen wollten. Dank geschickter Wechselbäder aus scheinbarer Aufgeschlossenheit gegenüber den armenischen Forderungen und betonter Standfestigkeit erreichte Gorbatschow eine Pause der seit fünf Monaten andauernden Unruhen, ohne grundlegende Konzessionen eingegangen zu sein.

Am Montag wurde nach Angaben eines Mitarbeiters der lokalen Zeitung 'Sowjetski Karabach‘ im Hauptort Karabachs, Stepanakert, wieder normal gearbeitet. Angesichts der massiven Pressekampagnen gegen die Streikenden sowie der offenen Warnungen durch die Behörden wollte es die armenische Bevölkerung offensichtlich doch nicht auf eine offene Konfrontation mit Moskau ankommen lassen. Nun klammert sie sich an die Beschlüsse des Präsidiums des Obersten Sowjets von vergangener Woche, in denen sie eine gewisse Konzessionsbereitschaft entdeckt haben will, obwohl darin die Zugehörigkeit Karabachs zu Aserbeidjan eindeutig bestätigt wird.

Nach Darstellung der armenischen Lokaljournalisten lassen Punkt zwei und drei des Präsidiumsdekrets genügend Spielraum, den Kampf um Selbstbestimmung mit anderen Mitteln fortzusetzen. Diese Punkte betreffen die Bildung einer Kommission, die Vorschläge über die verfassungsmäßige Zukunft Karabachs unterbreiten soll, sowie die Entsendung von Vertretern des Obersten Sowjets in die Problemregion. Die neue Kommission des Nationalitätensowjets soll die Anregungen des Präsidiums des Obersten Sowjets von vergangener Woche prüfen, hierbei vor allem den Vorschlag, Karabach den Status einer autonomen - wenngleich immer noch zu Aserbeidjan gehördenen - Republik zu gewähren. Darüber hinaus soll die Delegation des Obersten Sowjets als kurzfristige Maßnahme in Zusammenarbeit mit Vertretern Armeniens und Aserbeidjans für beschleunigte Inkraftsetzung eines vor Monaten beschlossenen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungspro Fortsetzung auf Seite 2

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gramms für Karabach sorgen. Sollten an der Mission auch Vertreter von ZK und Regierung teilnehmen, so entspräche dies einem von armenischer Seite in Moskau unterbreiteten Kompromißvorschlag. Zudem würde Moskau damit erstmals die Rolle Armeniens bei einer möglichen Lösung im Karabach -Konflikt anerkennen. Nach Angaben der Bevölkerung Stepanakerts hatte die Entsendung einer armenischen Schriftstellerdelegation am Freitag nach Karabach maßgeblich zum Abbau der Spannungen geführt und die Bereitschaft zum Streikabbruch wachsen lassen. In Armenien waren Streiks bereits in der letzten Woche beendet worden. In einer einstimmig angenommenen Entschließung des armenischen ZK -Büros heißt es TASS zufolge, die in Armenien entstandene Situation sei auf grobe Fehleinschätzungen und Fehler in der politischen, organisatorischen und ideologischen Arbeit der Komitees und der Grundorganisationen der Partei zurückzuführen. Sie hätten die politische Gefahr unbegründeter Aufrufe zu einer Änderung der national -territorialen Gliederung in der Region verkannt und eine passive und abwartende Haltung bezogen.

Pierre Taillefer