Die Grabschänder

■ Auf dem jüdischen Friedhof im Ostberliner Stadtbezirk „Prenzlauer Berg“ warf eine Gruppe von Jugendlichen Grabsteine um. Über den Prozeß gegen die Grabschänder berichtete Helmut Vogt in der Ostberliner „Wochenpost“.

Helmut Vogt

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Helmut Vogt

Jüdische Friedhöfe sind nicht nur Orte der ewigen Ruhe für die Toten und der Besinnung und Mahnung für die Lebenden, sie sind auch bedeutsame Dokumente der Kultur- und Sozialgeschichte. Da die Gräber auf diesen Friedhöfen nie eingeebnet werden, kann man dort sowohl früheste als auch spätere Zeugnisse der jüdischen Grabmalkunst bewundern. Auf dem Friedhof an der Schönhauser Allee im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg zum Beispiel findet man eine Vielzahl klassizistischer Stelen, Grabsteine aus der Zeit der Neorenaissance und des Neobarock und Wandgrabmale von einzigartiger architektonischer Gestaltung. Unter anderem liegen hier die Gräber bedeutender Vertreter des deutschen Geisteslebens, wie die des Malers Max Liebermann und des Komponisten Giacomo Meyerbeer.

Die weihevolle Ruhe wurde gestört. In der Zeit zwischen dem 30.Januar und dem 2.März dieses Jahres drangen fünf Jugendliche, drei Schüler und zwei Lehrlinge im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, viermal in diesen jüdischen Friedhof ein. In unterschiedlichen Gruppierungen, immer nachts und im mehr oder weniger betrunkenen Zustand. Sie warfen eine Vielzahl von Grabsteinen um. Ein ungeheuerlicher Vorfall, der die Schatten einer unseligen Vergangenheit heraufbeschwor. Die makabre Tat von betrunkenen und unwissenden Rowdys - oder ein politisches Verbrechen?

Beim ersten Mal waren es nur zwei, Frank L. und Rene K., die über die Einfassungsmauer des Friedhofs kletterten, in dessen Nähe sie wohnen. Sie hatten mal, so sagen sie aus, bei Gesprächen mit anderen jungen Leuten etwas über die sogenannten Grufties erfahren, über einige Jugendliche, die in Nachahmung westlicher Vorbilder auf Friedhöfen übernachten und sich an der Nähe des Todes weiden. Sie wollten, erklären die beiden, dieses Gruselgefühl nachempfinden. Doch weil sie keine Gruft entdecken konnten sie wußten nicht, daß es auf einem jüdischen Friedhof kein solch unterirdisches Gewölbe gibt -, wollten sie sich auf andere Weise gegenseitig ihren Mut und ihre Kraft beweisen. FrankL. versuchte, eine große steinerne Blumenschale anzuheben, und weil es ihm nicht gelang, stürzte Rene K. die Schale vom Sockel.

Zwei Wochen später hatte sich Oliver S. zu ihnen gesellt, als sie erneut über die Mauer kletterten. Diesmal kippten sie, jeweils allein oder zu zweit, Grabstelen von den Sockeln, mindestens 68 an der Zahl. Und bekräftigten ihre verbrecherische Tat durch antisemitische Beschimpfungen übelster Art - „Judenpack“ war dabei noch die gelindeste -, durch Imitieren des Hitlergrußes und durch Bespucken der Grabsteine. Welch eine gespenstische Szene.

Noch zweimal wiederholten sie solch nächtliches Treiben, dabei waren der 17jährige Marko W. und der 15jährige Ralf K. mit von der Partie. Weitere 153 Gräber wurden geschändet. Wer weiß, wie oft und wie sehr diese fünf Jugendlichen noch auf diese Weise gewütet hätten, wären sie nicht unmittelbar nach ihrer vierten Tat verhaftet worden. Der materielle Schaden, den sie angerichtet hatten - die Kosten für das spätere Wiederaufrichten der Steine und die Reparatur der Beschädigungen -, beträgt nach vorläufigen Berechnungen rund 20.000 Mark. Doch wieviel Beunruhigung, Bestürzung, Betroffenheit verursachten sie, nicht nur unter den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde. Der moralische Schaden ist unermeßlich.

Bestürzt und betroffen verfolgen auch die zahlreichen Zuhörer im Gerichtssaal die Verhandlung. Die fünf jugendlichen Angeklagten wuchsen bei uns auf, in unserem Land, in dem das Andenken an die millionenfachen jüdischen und anderen Opfer der nazistischen Barbarei und das Vermächtnis dieser Toten in Ehren gehalten werden. In dem, davon sind wir doch überzeugt, die Wurzeln des faschistischen Ungeistes gerodet wurden. Wo die Heranwachsenden in der Schule ausführlich über Ursachen und Folgen des Faschismus aufgeklärt, zu Gedenkstätten geführt und so unterrichtet werden, daß für sie Humanismus und Völkerfreundschaft keine leeren Begriffe bleiben dürften.

Und nun sprechen da fünf Halbwüchsige, fünf Fast-Erwachsene davon, daß sie sich auf dem jüdischen Friedhof als „Deutsche“ gefühlt, daß sie einen Haß gegen Ausländer, Juden und Homosexuelle empfunden und sich gegenseitig in der Ansicht bestärkt hatten, Hitler habe für das deutsche Volk auch Gutes geleistet, indem er die Arbeitslosigkeit beseitigte und die Autobahn bauen ließ. Primitive Rechtfertigungsversuche, wie man sie in einer Welt hört, die nicht die unsere ist.

Wo liegen die Ursachen dafür, daß sich solche bei uns längst überwunden geglaubten Ansichten wieder beleben können? Sind die Ursachen ausschließlich, wie der Staatsanwalt meint, in dem Export westlicher Ideologien zu suchen? Die fünf Jugendlichen erklären freimütig, daß sie in ihrer Freizeit vorwiegend Sendungen des Westfernsehens und des Westrundfunks verfolgt haben, ungehindert und unkontrolliert von den Eltern. Vor allem die „actionreichen“ Filme über deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg gefielen ihnen, darunter Filme, bei denen sich die deutsch -nationalistische Sichtweise hinter einem vorgeblichen Realismus verbirgt. Ohne Zweifel können solche Filme in Köpfen ohne ausreichende Geschichtskenntnisse gefährliche Spuren hinterlassen. Doch wie kann bei Jugendlichen in unserem Land der Boden fruchtbar sein für solch giftigen Samen? Wird denn nicht ständig dieser Boden bearbeitet, von Eltern, Lehrern und anderen Erziehern, damit kein Unkraut aufkeimen kann?

Die Beweisaufnahme in diesem Prozeß machte unter anderem deutlich: Bei allen fünf Jugendlichen war das Vertrauensverhältnis zu den Eltern gestört. Aus unterschiedlichen Gründen. Bei Frank L. kam es zu einem gespannten Verhältnis zur Mutter, als sie nach ihrer Scheidung einen anderen Mann kennenlernte und dieser Mann nur verächtlich über Frank sprach, der in schwarzer Kleidung und mit auffälliger Frisur umherlief.

Bei Rene K. übte der Vater, einst erfolgreicher Radsportler, nach der Scheidung das alleinige Erziehungsrecht aus. Doch als Rene, auf dem Weg zum hoffnungsvollen Nachwuchssportler, eines Tages Interesse für Diskos und Mädchen äußerte, ließ ihn der Vater enttäuscht fallen. Ohne auf die Probleme des Sohnes einzugehen.

Ralf K. flüchtete oft zur Großmutter, wenn der Vater betrunken nach Hause kam und seine Frau schlug. Bei der Mutter von OliverS. und den Eltern von Marko W. ist nicht eindeutig zu erkennen, warum sie, ebenso wie die Eltern der anderen, nicht aufmerksamer die psychische Umbruchsituation ihrer sechzehn- und siebzehnjährigen Söhne beobachteten. Sie wußten nicht, was sich in den Köpfen der Jungen abspielte, und so war keiner von ihnen in der Lage, den verworrenen Vorstellungen und Ansichten zu begegnen.

In der Schule sanken die Leistungen der fünf ab. Sie hatten, wie sie sagen, keine Lust mehr zum Lernen. Sie hielten den Unterrichtsstoff für langweilig. Vielleicht das sei nur als Frage formuliert, nicht als Vermutung verstanden es manche Lehrer auch nicht, bestimmte Erkenntnisse, zum Beispiel aus der deutschen Geschichte, emotional zu vertiefen?

Die fünf verloren allmählich alle positiven Bindungen und fanden sich zu einer Gruppe zusammen, in der sie gegenseitige Anerkennung zu finden hofften. Sie trafen sich regelmäßig auf einem Hinterhof, ließen, um sich ihre Männlichkeit zu beweisen, den Alkohol fließen und berauschten sich an geistigen Versatzstücken aus dem Arsenal des Nationalismus. So entwickelten sie sich zu einer kleinen Schar von Außenseitern, so schlug die Frustration um in Aggression, erhielt pubertäre Renommiersucht eine faschistoide Prägung, wurde die Gruppe gefährlich für die Gesellschaft. Was sich unter anderem auch darin äußerte, daß Frank L., Rene K., Marko W. und Oliver S. auf nächtlicher Straße Männer überfielen und zusammenschlugen, die sie für Homosexuelle hielten.

Frank L., ebenso wie Ralf K. wegen Rowdytums vorbestraft, war der aktivste von allen, derjenige, der die Grabschändungen vorschlug und bei allen Verbrechen dabei war. Er hat von allen Angeklagten die höchste Strafe zu erwarten.

Für keinen von ihnen gab es einen Zwang, in der Gruppe zu bleiben, jeder von ihnen hätte sich gesellschaftsgemäß verhalten können, wenn er es gewollt hätte. Sie wußten um die Strafbarkeit ihres Handelns, und das Versagen von Eltern und Lehrern mindert nicht ihre Schuld. Sie haben, der eine mehr, der andere weniger bewußt, die Gesellschaft herausgefordert und sie an einem ihrer empfindlichsten Nerven getroffen. Entsprechend ist das Urteil, das das Gericht nach einer langen und sehr gründlichen Beweisaufnahme und nach Abwägen des individuellen Anteils an den Untaten verkündet: Sechseinhalb Jahre Freiheitsstrafe für Frank L. fünfeinhalb Jahre für Rene K. und fünf Jahre für Mario W. Ralf K. muß für dreieinhalb Jahre und Oliver S. für zweieinhalb Jahre in den Strafvollzug. Selbstverständlich müssen sie alle den materiellen Schaden, den sie auf dem Friedhof anrichteten, bezahlen.

Wie stehen sie heute zu ihrer Tat? Sie äußern Reue, erklären, daß sie ihre falschen Ansichten durch viele Gespräche während der Ermittlungen und durch eigenes Nachdenken überwunden haben. Die Erklärungen sind unbeholfen, aber aufrichtig, wie mir scheint. Das läßt mich für sie hoffen. Wenn sie ehrlich mit sich selbst und ihrer Tat abrechnen, wird für sie ein Neubeginn für ein vernünftiges und chancenreiches Leben in unserer Mitte möglich sein.

Doch ihr Beispiel bleibt eine Mahnung für alle, die mit der Erziehung von Jugendlichen zu tun haben: Klug, aufmerksam, in offener Diskussion und vor allem rechtzeitig Gefährdungen zu begegnen, denen junge Leute in den komplizierten geistigen Kämpfen unserer Zeit ausgesetzt sind.

(Dankend entnommen der 'Wochenpost‘ (Berlin/DDR), Nr. 28 vom 15.7.'88)