Nicht mehr China und noch nicht Amerika

■ Eine Reportage aus San Franciscos Chinatown, dem dichtest besiedelten Flecken Nordamerikas

Stefan Schaaf

Die Luft in dem trübe erleuchteten Raum ist vom schweren, süßlichen Duft von Räucherstäbchen durchzogen. Nur durch ein kleines Fenster fallen einige Sonnenstrahlen auf einen leise plätschernden Zimmerspringbrunnen in einer Ecke. Wir sitzen auf blechernen Klappstühlen, den Blick auf eine Bühne gerichtet, die von unzähligen rot-goldenen Laternen beleuchtet wird, und lauschen den Erklärungen Ernest Channs, der uns in diesen buddhistischen Tempel in San Franciscos Chinatown geführt hat.

Es gibt nur noch sehr wenige davon, sagt er, denn fast alle chinesischen Amerikaner haben sich dem Christentum zugewandt - Resultat heftiger Bemühungen der protestantischen Kirchen im letzten Jahrhundert, die hofften, mit der Missionierung der in die Vereinigten Staaten eingewanderten Chinesen den ersten Schritt zu einer Christianisierung aller Chinesen machen zu können. Die Hoffnung hat getrogen: Die Blumengestecke vor dem Altar sind genauso wie die von der Decke baumelnden Laternen Gaben der verbliebenen buddhistischen Gemeindemitglieder, gleichfalls die Teller voller Früchte, die Chann hinter dem Altar hervorholt und die den Verstorbenen als Wegzehrung ins Jenseits dienen sollen. Wir verlassen den düsteren Raum im Obergeschoß des alten Hauses, tasten uns eine steile Treppe hinab und stehen wieder auf der Straße.

Chinatown - schon bei meinem ersten San-Francisco-Besuch vor sechs Jahren hatte mich diese asiatische Exklave mit ihren fremdartigen Gesichtern, Gerüchen und Geräuschen neugierig gemacht. Irgendwann hatte ich Wayne Wangs Film „Chan is Missing“ gesehen, das Werk eines Chinesen aus San Francisco, der die auf seltsame Weise zwischen Amerika und Asien geteilte Identität eines Chinatown-Bewohners beschreibt. Nun will ich mehr erfahren.

Eine halbe Stunde vorher hat Chann uns im chinesischen Kulturzentrum begrüßt, das eine Etage im klobig-modernen „Holiday Inn“ belegt. Von der Hotelterrasse aus, mit den Wolkenkratzern von San Franciscos Finanzdistrikt im Rücken, weist er auf die 20 Häuserblocks von Chinatown, in denen etwa 80.000 Menschen leben und durch die er uns einige Stunden lang führen will. „Die ersten Chinesen kamen mit dem Goldrausch 1848, fast alle aus einer eng begrenzten ländlichen Region in der südchinesischen Provinz Kanton.“

Vor uns liegt der Portsmouth Square, das kollektive Wohnzimmer von Chinatown, auf dem die alten Männer in ihren schwarzen Gewändern sich tagein, tagaus dem chinesischen Schachspiel hingeben. Andere stehen in kleinen Gruppen unter den schattenspendenden Pinien oder sitzen stundenlang auf Bänken und warten, ob jemand Bekanntes vorbeikommt. Die steinernen Schachbretter sind stets umlagert. „Chinesisches Schach hat fast die gleichen Regeln wie das ihnen bekannte Spiel, doch die Figuren laufen auf den Linien statt den Feldern, außerdem fehlt die Dame“, erläutert Chann. Auch auf dem Platz haben Frauen nichts verloren, nur auf zwei Bänken ganz am Rand sitzt eine Gruppe von älteren Chinesinnen, sonst sind die Männer ganz unter sich. „Sie sehen es nicht gerne, wenn wir ihnen noch länger beim Spiel zusehen“, drängt Chann, „denn bisweilen geht es dabei unerlaubterweise - um Geld.“ Buddhabäuche und

Kaliforniens Kuomintang

Wir laufen die Straße einen Block hinauf zur Ecke Grant Street. Auf der inoffiziellen Hauptstraße Chinatowns herrscht ein unglaubliches Gedrängel von Touristen, die sich die Nasen an den Geschäften mit dickbauchigen Buddhafiguren, Jadeschmuck und Holzschnitzereien plattdrücken, über den Inhalt der quer über die Straßen gespannten chinesischen Spruchbänder rätseln oder die Speisekarten der Restaurants studieren. Zwischen den Schaufenstern und den Autos auf der Straße ist kaum Platz zum Laufen. „Chinatown ist der am dichtesten besiedelte Fleck Nordamerikas“, erläutert Chann. In nur einem Häuserblock haben hier bisweilen 3.000 Menschen leben müssen, seit der Aufhebung der Siedlungsbeschränkungen in den vierziger Jahren hat sich dies etwas gebessert. Viele Chinesen sind einige Meilen weiter in einen anderen Stadtteil umgesiedelt, wo mittlerweile eine genauso emsige, doch weniger pittoreske Chinatown entsteht. Viele sind auch über die Bucht nach Oakland gezogen, wo die Mieten und Hauspreise erschwinglicher sind.

Doch das kulturelle und das politische Herz der chinesischstämmigen Bevölkerung schlägt noch hier. Die politischen Umwälzungen in ihrer asiatischen Heimat sind an Chinatown keineswegs unbemerkt vorübergegangen. Chann macht uns darauf aufmerksam, daß über den Dächern mit ihren geschwungenen Giebeln bisweilen die Flagge der nationalchinesischen Kuomintang, bisweilen die der Volksrepublik weht. Gelegentlich flattern auch beide einträchtig neben den rotweißblauen „Stars and Stripes“. Sowohl Peking als auch Taiwan suchen ihren Einfluß zu wahren.

Wir laufen noch einen Block weiter den Hügel hinauf zur Stockton Street und kommen an einem massiven Haus vorbei, dessen Einfahrt mit schweren Eisengittern zugesperrt ist. Hier befindet sich das Hauptquartier der Kuomintang in Kalifornien. Vor einiger Zeit warf jemand eine Brandbombe in den Eingang, seitdem riegeln sich die politischen Stellvertreter Taiwans von der Außenwelt ab. Chann ist recht einsilbig, was die politischen Konflikte innerhalb der chinesischen Gemeinde betrifft. „Die älteren sympathisieren eher mit den konservativen Kräften, während die jüngere Generation aus einem gewissen Nationalstolz heraus eher die Volksrepublik unterstützt“, sagt er nur. Doch die Konflikte seien bisweilen heftig: „Sogar Familien wurden auseinandergerissen.“ Das Schwarzpilzmonopol

In der Stockton Street sind die Chinesen wieder weitgehend unter sich. Statt an Touristen orientierten Geschäften finden sich Läden, in denen der tägliche Bedarf einer chinesischen Familie gedeckt wird. In den Auslagen finden sich Bok-Choi-Kohl und noch exotischere Gemüse, in einigen Fenstern hängen rotglänzende gebratene Hühner und Enten an ihren Füßen und lassen den Kopf nach unten baumeln. „Die Chinesen wollen ihr Geflügel lieber vollständig verkauft bekommen, denn sie glauben, daß alles einen Anfang und ein Ende haben muß“, erklärt unser Führer. In einem Kräuterladen etwas weiter auf der selben Straße erfahren wir, welche seltsamen Formen die politischen Rivalitäten bisweilen annehmen. Bis unter die Decke reichen die Regale mit den Gläsern voller Tees, Rinden, Wurzeln und Kräuter, die gegen jede Art körperlichen Gebrechens helfen sollen. „Eine Zeitlang hatten die Konservativen ein Monopol auf den Import schwarzer Pilze aus China. Sie können aber kein chinesisches Restaurant ohne schwarze Pilze betreiben, und so wurde eine Reihe von Betrieben, deren Besitzer die falsche Seite unterstützten, einfach boykottiert und empfindlich beeinträchtigt.“

Viel älter als die kalifornischen Ableger der verschiedenen politischen Kräfte Chinas, in früheren Zeiten auch viel bedeutsamer, sind jedoch die auf den verschiedenen Familienclans beruhenden Wohlfahrtsvereinigungen in Chinatown. Sie waren vor allem Anlaufstelle für Neuankömmlinge. Ihnen übergeordnet sind die Bezirksvereinigungen, die „Huigans“, je eine für jeden chinesischen Landkreis, aus dem Einwanderer kamen. Einige haben ihren Sitz gegenüber dem buddhistischen Tempel, den wir zu Beginn des Rundgangs besucht hatten. In San Francisco spielte vor allem das um 1870 zusammengeschlossene Bündnis der sechs wichtigsten Huigans, die sogenannten „Six Companies“, eine wichtige Rolle. Sie agierten als Vertreter der Chinesen nach außen und übten soziale Kontrolle nach innen aus. Die „Six Companies“ residieren in einem kitschig -bunten Palast mit geschwungenem Dach, dessen Türen uns leider verschlossen waren. Unfreiwilliges Ghetto

Ich will mehr erfahren über die Geschichte Chinatowns und über die Bedeutung der politischen Fraktionen, die mehr mit der Politik in China als mit den lokalen Problemen der Bewohner Chinatowns befaßt zu sein scheinen. Ernest Chann schickt mich zur Redaktion der Wochenzeitschrift 'East West‘, einer der beiden englischsprachigen Publikationen in und für Chinatown. Sie befindet sich im dritten Stock eines Bürogebäudes am Portsmouth Square, das fast ausschließlich chinesische Betriebe - Anwaltsbüros, Import-Export-Händler und ein Luxusrestaurant unter dem Dach - beherbergt. Serena Chen, eine Redakteurin des Blatts, kennt sich in der Geschichte ihrer Community aus: „Es ist eigentlich mehr ein Zufall, daß Chinatown immer noch als dieser enge Zusammenhang der chinesischen Amerikaner existiert.“ Als sie Mitte des letzten Jahrhunderts über den Pazifik kamen, um den Hungersnöten in ihrer Heimat zu entfliehen und in den kalifornischen Goldminen zu arbeiten, wurden sie, nachdem man sie zunächst willkommen geheißen hatte, einige Jahre später vom Rassismus der Amerikaner in diese eng begrenzten Stadtviertel zusammengepfercht. In den frühen Chinatowns gab es auf 20 Männer gerade eine Frau - die meisten wurden von Zuhältern zur Prostitution gezwungen. Ernest Chann hatte diese Elendsviertel als „Ghettos im eigentlichen Wortsinn“ bezeichnet: „Man wird dort geboren, verbringt all seine Zeit dort und stirbt dort.“ Lange Zeit war es den Chinesen unter Androhung schwerster Strafen untersagt, die Grenzen ihres Stadtviertels zu überqueren.

Mit dem Ende des Goldrauschs wuchs in Kalifornien der Ruf nach einem Einwanderungsstopp für Chinesen. 1882 wurde die Immigration chinesischer Arbeiter verboten, desgleichen die Einbürgerung früherer Immigranten. Bis zur Lockerung des Verbots in den vierziger Jahren und seiner letztendlichen Aufhebung im Jahr 1965 war Chinatown zum langsamen Aussterben verurteilt. Die wenigen jüngeren Bewohner Chinatowns waren aus dem beengten Viertel weggezogen, als dies in den vierziger Jahren erlaubt wurde. „Fast 80 Jahre lang gab es also kaum frisches Blut für die Bewohner Chinatowns; es war eine sozial erstarrte Generation alternder Männer“, sagt Serena Chen. „Wenn sich dies 1965 nicht geändert hätte, gäbe es heute kein Chinatown mehr.“

Von amerikanischen Einflüssen war diese Bevölkerungsgruppe weitgehend abgeschnitten, ihre Englischkenntnisse waren bruchstückhaft. „Die Einwanderer, die ab 1965 vor allem aus Hongkong kamen, waren viel moderner und verwestlichter als die alten Leute, die ihr Leben lang in Chinatown verbracht hatten, denn diese stammten meist vom Land und hatten durch die Jahrzehnte starr an ihren Traditionen festgehalten“, sagt Serena Chen. Die „Papiersöhne“

Zwischen 1882 und 1943 gab es - neben dem illegalen Menschenschmuggel über die mexikanische Grenze - nur eine Möglichkeit, von China aus in die Vereinigten Staaten einwandern zu können: wenn ein bereits in Amerika geborener Chinese, der damit automatisch amerikanischer Staatsbürger geworden war, in China Vater wurde, war auch sein Sohn US -Bürger und hatte das Recht auf Einreise in die Vereinigten Staaten. Viele amerikanische Chinesen schwindelten den US -Behörden Söhne vor und verkauften deren Anrecht auf Einreise in ihrer alten Heimat für teures Geld.

Nachdem durch das große Erdbeben von 1906 fast alle Dokumente und Unterlagen im Rathaus von San Francisco von den Flammen vernichtet worden waren, wurde der Beweis der Staatsbürgerschaft für diese sogenannten „paper sons“ schwierig und zum Gegenstand grenzenloser Willkür der Einwanderungsbeamten. Viele Chinesen nutzten jedoch die Gunst der Stunde. Wie Hai Ming Lee, der Sohn eines chinesischen Arbeiters, in einem Buch über Chinatown erzählt, „war dies eine große Chance für viele Chinesen. Sie fälschten amerikanische Geburtszertifikate und brachten dann aus China vier, fünf Söhne mit, einfach so!“

Fragwürdige Fälle wurden zwischen 1910 und 1940 oft wochen und monatelang auf einer Insel in der Bucht von San Francisco interniert. Angel Island war das pazifische Gegenstück zu New Yorks gefürchteter Einwandererstation Ellis Island. „Viele amerikanische Chinesen lebten jahrzehntelang mit dieser Lüge. Erst 1955 wurde ihnen per Gesetz die Staatsbürgerschaft angeboten, falls sie den Betrug gestehen“, erzählt Serena Chen. Zwei Jahre zuvor hatte der US-Konsul in Hongkong den Vorwurf erhoben, daß zahlreiche Chinesen illegal in die Vereinigten Staaten geschleust worden seien, um das Land kommunistisch zu unterwandern. Die Angst vor linker Agitation hatte damals ganz Amerika erfaßt; die Einwanderungsbehörde überprüfte allein in San Francisco mehr als 10.000 Chinesen. „Mit der Drohung, ihre gefälschte Identität zu verraten, konnten viele Chinesen in San Francisco erpreßt werden“, sagt sie. Einige mit der Volksrepublik sympathisierende Bewohner Chinatowns wurden tatsächlich ausgewiesen, den fortschrittlicheren Kräften wurde ein auf Jahre wirksamer Schock verpaßt.

Ohnehin hielten sich die amerikanischen Chinesen in den fünfziger Jahren aus der Politik fern. Zwar hatten Chinesen und Amerikaner in den vierziger Jahren in Asien mit Japan einen gemeinsamen Feind, einige chinesischstämmige Amerikaner zogen gar mit der US-Army stolz aufs pazifische Schlachtfeld. Doch die willkürliche Internierung der Japaner in kalifornischen Konzentrationslagern während der letzten Jahre des Krieges war den US-Chinesen eine Lehre. In den fünfziger Jahren wurden alle Chinesen mit Mao Tse Tung in einen Topf geworfen. FBI-Chef J. Edgar Hoover nannte noch 1969 alle ethnischen Chinesen „potentielle Spione“. Die alte Garde unter Beschuß

In den sechziger Jahren strömten 30.000 Flüchtlinge nach Chinatown, die meisten kamen mit einem Umweg über Hongkong aus der Volksrepublik. Mehr als die Hälfte waren schlecht ausgebildete Jugendliche. Die sozialen Bedingungen in Chinatown verschlechterten sich dramatisch, viele der arbeitslosen Youngster schlossen sich rivalisierenden Jugendgangs an, die in den siebziger Jahren für ein negatives Image Chinatowns sorgten.

Das konservative Establishment sah die neuen Entwicklungen mit Schrecken und befürchtete, daß die von ihm verfochtenen konfuzianischen Werte von Arbeitsamkeit und ziviler Ordnung an Wertschätzung verlören. In den späten sechziger Jahren waren die Vertreter der „Six Companies“ und der chinesischen Handelskammer zum ersten Mal von der jüngeren Generation herausgefordert worden, sich der sozialen Probleme Chinatowns anzunehmen. Doch sie hatten sich geweigert, diese überhaupt wahrzunehmen. Als eine Serie im 'San Francisco Examiner‘ Chinatown als eine „feudale Enklave“ beschrieb, in der Angst, Verdächtigungen und Feindschaft regierten und in der Frauen und Kinder, aber auch Männer zu Hungerlöhnen arbeiteten, riefen die „Six Companies“ eine Pressekonferenz ein, um die Artikel als „beleidigend und irreführend“ zu denunzieren.

In den Jahren darauf warf die alte Garde Chinatowns ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um die gerichtlich angeordnete Integration der öffentlichen Schulen zu verhindern. Wer dem staatlich angeordneten Bustransport der Kinder in andere Stadtteile zustimme, sei kommunistischer Sympathien verdächtig. Ein Schulstreik wurde etwa zwei Monate lang befolgt, brach dann aber zusammen.

Eine Kluft tat sich auch zwischen den in den USA geborenen chinesischen Studenten und ihren seit 1965 immigrierten Kommilitonen auf. Die einen richteten ihre Aktivitäten auf die amerikanische Realität, die anderen waren mehr mit den politischen Konflikten jenseits des Pazifiks beschäftigt und stritten um die Loyalität zu Taiwan oder der Volksrepublik. Taiwans schwindender Einfluß in Südostasien führte dazu, daß immer mehr amerikanische Chinesen ihren Nationalstolz eher durch die Volksrepublik vertreten sahen. Seit den sechziger Jahren hatte sich neben den Anhängern der Kuomintang und denen der Volksrepublik noch eine dritte Strömung herausgebildet, die die Unabhängigkeit Taiwans - und damit implizit die Aufgabe des taiwanesischen Anspruchs auf ganz China - forderte und die die diktatorische Politik Taipehs kritisierte. Ihre Anhänger wurden von taiwanesischen Agenten überwacht und bisweilen zum Schweigen gebracht, so im Fall des Journalisten Henry Liu, der 1984 nach der Veröffentlichung einer kritischen Biographie des taiwanesischen Präsidenten Tschiang Tsching Kuo in San Francisco ermordet wurde. Chinatowns viele Provinzen

Ernest Chann hatte uns auf unserem Rundgang auf die wachsende ethnische Vielgestaltigkeit der chinesischen Community aufmerksam gemacht, die vor allem bei den Restaurants ins Auge fällt: „Früher gab es fast nur kantonesische mit ihren vielen Fisch- und Krabbengerichten, doch nun finden sich auch solche aus Hunan, wo es sehr kalt wird und die Speisen meist sehr scharf gewürzt sind, und noch aus anderen Regionen. In einer Generation werden diese Differenzierungen verlorengegangen sein und es wird nur noch eine chinesisch-amerikanische Küche geben.“

Ich hatte mich bereits gefragt, warum so viele Chinesen in Chinatown in gebrochenem Englisch miteinander reden. „Es ist die einzige Sprache, die sie alle verstehen“, meint Serena Chen lachend. Chinatown ist längst nicht mehr so homogen, wie es erscheinen mag: „Es gibt die alteingesessenen Einwanderer, die urbaneren Immigranten aus Hongkong, dann die Flüchtlinge aus der Volksrepublik, Chinesen aus Taiwan und solche aus Indochina, die seit dem Ende des Vietnam -Krieges geflohen sind.“ Bei lokalen Problemen an einem gemeinsamen Strang zu ziehen, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. „Das haben eigentlich erst die chinesischen Amerikaner der zweiten Generation gelernt. Diese haben auch erst das Netz von sozialen Hilfsorganisationen aufgebaut, das es - inspiriert von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung - seit Ende der sechziger Jahre hier gibt“, sagt sie.

1960 gab es gerade noch eine Viertelmillion chinesische Amerikaner in den USA; inzwischen ist ihre Zahl auf etwa eine Million gestiegen. Die, die seitdem gekommen sind, unterscheiden sich nicht nur durch ihre Herkunftsorte, sondern auch durch sprachliche und soziale Kriterien: viele sind gebildete Geschäftsleute, die vom wachsenden Handels und Informationsaustausch zwischen Amerika und Asien profitieren, sich nicht in den Chinatowns ansiedeln wollen und meistens Mandarin-Chinesisch sprechen, die übrigen sind Verwandte der bereits seit einer oder mehreren Generationen in den Vereinigten Staaten lebenden Chinesen, die dem entbehrungsreichen Leben in China entkommen wollen.

Mit dem ökonomischen Erfolg für eine kleine Schicht kam die Suche nach politischem Einfluß. Doch bisher hat nur eine Handvoll chinesischer Amerikaner oder Amerikanerinnen politische Ämter errungen. In New York City waren 1985 nur etwa 6.000 der 100.000 Bewohner Chinatowns in die Wählerlisten eingetragen. Selbst in San Francisco, wo jeder fünfte Bewohner chinesischer Abstammung ist, gelang es noch nicht, einen Chinesen oder eine Chinesin in den zwölfköpfigen Stadtrat zu wählen. Zum Teil liegt es an politischer Apathie - „Wenn die Chinesen hier bei all ihren Unterschieden eines gemeinsam haben, dann, daß sie nicht zur Wahl gehen“, hatte Serena Chen gesagt - zum Teil an den Wahlkreisgrenzen der Stadt, die San Franciscos Chinatown in der Mitte durchschneiden.

Die politischen Veränderungen und der neue Reichtum in Südostasien haben aus dem Ghetto der alten kantonesischen Männer, das Chinatown bis in die sechziger Jahre war, ein ethnisch und sozial vielgestaltiges Stadtviertel werden lassen. Neuer Wandel kündigt sich an: chinesische Investoren aus Hongkong, das 1997 seine Unabhängigkeit verlieren wird, verlagern ihr Kapital gegenwärtig im großen Stil in die Vereinigten Staaten, oft nach San Francisco. „Die Preise für Immobilien und damit die Mieten für all die kleinen Betriebe, Läden und Restaurants schießen seitdem nach oben“, sagt Serena Chen. „Das könnte wirklich das Ende von Chinatown bedeuten.“