Unter den anderen Wienern

■ Ein Kapitel aus der im Oktober bei Hanser erscheinenden „Biographie eines Flusses - Die Donau.“

Claudio Magris

Wien ist auch eine Stadt der Friedhöfe, die sich ebenso majestätisch und vertraulich geben wie die Porträts von Franz Joseph. Der Zentralfriedhof stellt eine große Parade vor, ein einzigartiges Manöver, eine Inszenierung um der Illusion willen, den Triumph der Zeit aufhalten zu können. Die Gräber der großen Wiener - die Sektion, die den berühmten Persönlichkeiten vorbehalten ist, beginnt links vom Haupteingang, Tor Nr.2 - bilden die ersten Reihen einer Garde, die sich der Vergänglichkeit entgegenstellt; doch im Unterschied zur napoleonischen, die sich, ohne zu zögern, bei Waterloo zu einem Karree formierte, hat diese Garde eine flexible Kampftaktik, scheint sich in Sichtdeckung bringen zu wollen, versucht eine Finte, umzingelt den Tod, scherzt dabei, zögert und verzögert, um das methodische Vorgehen der Sense zu verwirren. Um fünf Uhr morgens ist diese Schar aus Steinen, Büsten und Grabmälern noch beinahe unsichtbar, verborgen in einer nebligen und regnerischen Nacht, in einer farblosen, trüben Wirklichkeit, die nur hier und da vom Schein der Votivlichter unterbrochen wird. Herr Baumgartner hält sein Gewehr fest - ein Gewehr, das er seit drei Jahrzehnten besitzt, wie er mir vor wenigen Minuten gesagt hat. Seine Hand umfaßt es voller Zuneigung und mit der ruhigen Vertrautheit dieses langjährigen Zusammenlebens: so wie ein Musiker dabei Vergnügen empfindet, in seiner Hand die Violine zu spüren, die er nicht allein um ihres schönen Klanges willen liebt, sondern auch ihrer Form, ihrer Rundungen, ihrer Oberfläche, der Farbe ihres Holzes wegen.

Es ist das erste Mal, daß ich jemanden auf einen Friedhof begleite, der nicht mit Blumen, Schaufeln oder Gebetbüchern hantiert, sondern mit Flinten und Patronen. Heute aber ist für einige Stunden, bis es hell werden wird, der Wiener Zentralfriedhof ein Wald, ein Dschungel, die Prärie von Lederstrumpf, die Steppe Turgenjews, das Reich der Diana und des heiligen Hubertus, ein Ort, an dem nicht bestattet und gesegnet wird, sondern wo man sich in Stellung bringt, auflauert, schießt, wo uralte Verwandte getötet werden, ohne daß irgendein Ritus sie feiern, ohne daß ihnen ein Requiem gesungen oder ein Kaddisch für sie gebetet würde. Heute früh wird auf dem Zentralfriedhof gejagt, auch wenn Herr Baumgartner dieses Wort nicht gerne hört und lieber von einem notwendigen und autorisierten Zwangsabschuß des Wildes spricht, wenn es überhandnehme, oder auch aus anderen Gründen Schaden anrichte. Er ist einer der drei Jäger, die von der Wiener Stadtverwaltung beauftragt sind, in dieser Totenmetropole - der „Stadt der anderen Wiener“, wie die Österreicher sagen - das rechte Gleichgewicht zwischen den hier mißbräuchlich und entgegen aller Vorschriften Lebenden herzustellen, um mit anderen Worten zu verhindern, daß es unter den Toten zu viele Lebewesen gibt, und diese, sofern sie sich auf dieser Welt allzu wohl fühlen und sich dabei noch vermehren sollten, alsbald in Tote zu verwandeln. Der Tod ist harmlos, umsichtig und diskret, er ärgert niemanden und tut keinem weh; es ist das Leben, das stört, Lärm macht, Schaden anrichtet, angreift und das daher gezügelt werden muß, damit es nicht allzu lebendig ist. Die Hasen zum Beispiel haben eine wahre Leidenschaft - zerstörerisch und sträflich wie alle Leidenschaften - für die Stiefmütterchen, die pietätvolle Angehörige auf die Gräber gepflanzt haben; sie begnügen sich nicht damit, ihren Hunger zu stillen, sondern sie verwüsten und verheeren, sie richten ein Gemetzel an wie der Marder im Hühnerstall. Auf der Ehrengrabstätte des Bundespräsidenten liegen tatsächlich ganze Büschel von ausgerissenen und angeknabberten Stiefmütterchen verstreut.

Rechtfertigt solch harmlose Respektlosigkeit die Erlaubnis zu töten? Die Genehmigung ist übrigens sehr beschränkt und wird streng überwacht. Die beiden Hähne an Herrn Baumgartners Gewehr bedrohen ausschließlich männliche Fasane, Hasen und Wildkaninchen, und auch dies nur im Rahmen genau festgelegter Vorschriften. Österreich - so heißt es bei uns - war und ist ein ordentliches Land; eine Jagdgenehmigung unterliegt strengen Kontrollen, Verstöße werden unnachsichtig bestraft, und daher gibt es auch nicht jene Sonntagsjäger, die - berauscht von einem infantilen Allmachtswahn - in Italien ihr Schrot auf Wild und Leute verschießen und weit eher als die Stiefmütterchen verschlingenden Hasen eine Intervention seitens Herrn Baumgartners verdienen würden.

Letzterer hat sich neben mir ins Gras auf die Lauer gelegt; sein massiger, väterlich wirkender Körper hebt sich allmählich von der Dunkelheit ab, er ist kein Jagdbesessener, zeigt nicht jene dümmliche Lust am Töten, das Leben all dessen, was sich bewegt, zu beenden, er verliert sich in keine zurechtgelegten Philosopheme über eine totemistische Kommunion zwischen denen, die töten, und denen, die getötet werden; er läßt keinerlei banale Erregung erkennen, seine gutmütige Gelassenheit ist eher die eines Gärtners. Er kann gut zielen und tut das, was er tun muß, Österreich ist ein ordentliches Land, aber vielleicht mißfällt es ihm nicht allzusehr, wenn er, natürlich ohne eigenes Verschulden, mit leeren Händen nach Hause zurückkehrt.

Anfangs wird er nicht gerade davon begeistert gewesen sein, mich auf Schritt und Tritt um sich zu haben, da sonst niemandem zu dieser Zeit Einlaß gewährt wird; am Friedhofseingang hatte er dem Nachtwächter erklärt, ich sei Professor - ein Titel, den man hierzulande ehrt - und dürfe ausnahmsweise und auf Fürsprache der Kanzlei des Oberbürgermeisters von Wien mit ihm eintreten. In dieser naßkalten Morgendämmerung, die allmählich die wolkenverhangene Dunkelheit aufhellt, erlebe ich nicht gerade ein großes Jagdabenteuer, dafür aber vielleicht den Gipfel meines Ruhms, denn meine Bücher über das habsburgische Mitteleuropa, dank derer mir das Wiener Rathaus die Sondergenehmigung erteilt hat, mich zu dieser Stunde in das nasse Gras des Zentralfriedhofs zu kauern, werden schwerlich jemals größeren Einfluß auf die Realität ausüben, werden kaum mehr deren Grenzen und Verbote so wie jetzt antasten können. So mag es sein, daß ich in dieser Dämmerung meinen Tag gehabt habe, wie König Lear sagt.

Wir bewegen uns zum Rand des Friedhofs, an den Gräbern vorbei, die nach und nach erkennbar werden. Auf der Grabstätte von Castelli, dem heiteren und überaus fruchtbaren Autor von volkstümlichen Lustspielen, befindet sich eine Inschrift des Tierschutzvereins; an dem einfachen hohen Kreuz, das sich aus dem Morgennebel abhebt, ist in einem Satz das Leben Peter Altenbergs lakonisch umschrieben, ganz Toccata und Fuge: „Er liebte und sah.“ Ein nackter, essentieller Kubus ist das Grabmal von Loos; dasjenige Schönbergs, Vertreter einer weitaus beunruhigenderen Geometrie, bildet ebenfalls einen Kubus, allerdings einen schiefen.

Herr Baumgartner späht umher, achtet auf jedes Geräusch, sein Blick durchforscht das in der Dämmerung undurchdringliche Laubwerk. Er kann schießen wohin er will, auch zwischen die Kreuze und die noch frischen Blumengebinde; doch ist er vorsichtig, denn dieser Teil des Gottesackers, ungefähr ein Drittel des ganzen (die anderen fallen unter die Kompetenz seiner beiden Kollegen) ist ihm anvertraut, er ist dafür verantwortlich, er muß über seine Kugeln Rechenschaft ablegen und über einen eventuellen Fehlschuß, der ein ewiges Licht auslöschen oder einen jener Engel verunzieren könnte, die nachdenklich über manchen Gräbern wachen. Die Angehörigen, die in ein paar Stunden, wenn der Friedhof geöffnet werden wird, die Fotografie ihres lieben Verblichenen wie den Sombrero in einem Western durchlöchert fänden oder aber den Grabstein mit dem Blut eines Wildkaninchens befleckt, das im unrechten Augenblick getroffen worden wäre, wüßten nur zu gut, bei wem sie sich beschweren könnten. „Es muß nicht, aber es kann passieren“, wiederholt er mehrmals mit heiterer Miene.

Wir sind an der Eingrenzung der letzten Grabreihe angelangt, haben Stellung bezogen auf einer kleinen Erhebung, die aus angehäufter Erde, Schutt, Gras und dem auf den Wegen zusammengeharkten und hier aufgeschichtetem Laub besteht, so daß man einen schönen Rundblick genießt. Die Erde in dieser Gegend ist besonders geeignet, Kadaver rasch verwesen zu lassen, und dies wußten im vergangenen Jahrhundert die Behörden ebensogut wie die Besitzer der Parzellen, die während der Bauplanung für den Friedhof um den Preis hinsichtlich einer raschen oder langsameren Verwesung stritten und feilschten und schließlich Schmähschriften widereinander schrieben wie der Gemeinderat Doktor Mitlacher und der Baron Lasky im Jahre 1869. Es ist ein düsterer Bezirk, in dem wir uns befinden, ein Stück Grasland zwischen dem Waldsaum und einer Mauer, welche das Zentraldepot der Wiener Verkehrsbetriebe umgibt. Wenige Schritte entfernt steht auf einem Grabstein der Familie Pabst „Auf Wiedersehen“. Jene Wiese bildet - obgleich weitläufig - eine kleine Naturlandschaft für sich, eingegrenzt von der Gesellschaft, von der Symmetrie der Wege, von der Bestattungsindustrie auf der einen, von den Verkehrsbetrieben auf der anderen Seite; und doch ist dieser kleine Raum wie eine Taiga oder Savanne, wie diese eingekreist von Zivilisation, aber zugleich bestimmt von dem archaischen Gesetz der Tierwelt, das umherstreichen, wittern und anschleichen bedeutet, Nahrungssuche und Paarung, nachstellen und fliehen: jenem Gesetz, das noch im Blumenbeet im Garten oder im Gefäß der Topfpflanze Gültigkeit besitzt.

Das farblose Gras wird mit einem Mal grün, zwischen den Bäumen wird ein erstes Schwirren und Zwitschern vernehmbar; die großen Krähen, die jedes Jahr von Rußland herüberkommen, fliegen in Scharen, im Osten steigt eine fahle Zitronenscheibe empor; der unverwechselbare Geruch des Morgens erfüllt einen, sogar in diesem Vorstadtwäldchen, mit einem körperlichen Glücksgefühl, mit der Lust des Körpers an seiner eigenen Bewegungsfreiheit, dem Genuß zu fühlen, zu tasten, zu betrachten. Zu den geschützten Weibchen, die seit einiger Zeit auf der Wiese umherhüpfen, hat sich vorsichtig und noch in beträchtlicher Distanz ein männlicher Fasan gesellt; mein Nachbar nimmt sein Ziel ins Visier. Gewohnt, auf dem heimischen Monte Nevoso, dem Sneznik, wie er in Slowenien heißt, die Fallen der Jäger zu zerstören, beschleicht mich die vage Empfindung, ein Verräter zu sein, jemand, der zur anderen Seite übergelaufen ist. Geht nicht jeder von uns auf diese Weise seinem Schicksal entgegen, wohl gewappnet und mit unnützer Vorsicht? In dem unbeweglichen Zustand, in dem ich mich befinde, frage ich mich, welche Konstellation möglicher atomarer oder mikrobiologischer Gefahr - Sternenkriege, rezidive Viren oder Überholmanöver in Kurven - mein Leben bedrohen mag, so wie das Gewehr meines Nachbarn diesen Fasan bedroht, den eine unendliche Kette von Kombinationen dazu auserwählt hat.

In dieser absurden und schuldbewußten Spannung denke ich mit Bedauern daran, daß im Jahre 1874 die hohen Kosten (eine Million Gulden) den von Felbinger und Hudetz ausgearbeiteten Plan zu einer Rohrpostbestattung vereitelt haben. Dieses Projekt sah vor, die in der Stadt Verstorbenen mittels Luftdruck durch eine kilometerlange Führung direkt in das ihnen bestimmte Grab zu befördern. Die Luft, so stelle ich mir vor, müßte unter dem dumpfen Aufschlagen der unaufhörlich eintreffenden Leichen erdröhnen, und der Fasan würde die Flucht ergreifen.

Doch das Spiel des Zufalls und der Verkettungen, welches das Universum verbindet, hat entschieden, daß die Exekution des Fasans aufzuschieben sei, was auf österreichisch -bürokratische Weise geschieht. Kurz bevor der Schütze sein Ziel definitiv aufs Korn genommen hat, erscheint am Waldrand , dicht bei dem „Auf Wiedersehen“ der Familie Pabst, ein knatternder kleiner Lastwagen, vollbeladen mit verfaultem Laub und anderen Abfällen, die die Friedhofsgärtner beinahe ebensosehr Frühaufsteher wie die Jäger - auf den Wegen gesammelt haben und hier in der Nähe abladen wollen. Der aufgeschreckte Fasan fliegt davon; Herr Baumgartner gestattet sich ein wohltönendes „Scheiße!“, doch grüßt er die Spielverderber auf das herzlichste.

Wir bewegen uns dem Ausgang zu, in Kürze werden die gewöhnlichen Friedhofsbesucher eintreffen. Im Grunde genommen paßt diese Morgendämmerung durchaus zum wienerischen Geist, der den Tod verspottet, ihn umschmeichelt, aber auch verlacht, ihn hofiert und - da man ihn eben nicht endgültig sitzenlassen kann wie einen Lebenspartner, dessen man überdrüssig geworden ist - ihm wenigstens eins auszuwischen versucht. Am Tor treffen wir einen Kollegen von Herrn Baumgartner. Der Hase, den er in der Hand hält, ist das Bild eines defizitären Universums, des Sündenfalls eines Lebens, das sich vom Tode nährt. In einigen Stunden wird aus diesem Hasen eine hübsche Trophäe und noch etwas später ein schmackhafter Braten geworden sein; doch jetzt ist er noch ganz Flucht und Schrecken, ist das Leiden aller Kreatur, die weder um Leben gebeten noch den Tod verdient hat, ist das Mysterium des Lebens selbst, jenes seltsamen Etwas, das noch bis vor kurzem in diesem Hasen gewesen und nun nicht mehr da ist, und worüber nicht einmal Wissenschaftler Auskunft zu geben vermögen, wenn sie, um es zu definieren, auf Tautologien zurückgreifen wie „die Gesamtheit der Phänomene, die dem Tod entgegenwirken. Ich weiß nicht warum, denn wie alle Komparsen im Welttheater spiele ich in diesem Drama keine Hauptrolle und trage daher keine unmittelbare oder eindeutige Verantwortung, und dennoch empfinde ich beim Anblick des Hasens so etwas wie Scham.

Übersetzung aus dem Italienischen Heinz-Georg Held

Wir danken dem Hanser-Verlag in München, der im Herbst Claudio Magris‘ „Die Donau - Biographie eines Flusses“ herausbringen wird.