Vatermörderinnen gesucht

■ Gegen das Grämliche einer verkorksten Liebe / Von Liebe, Haß und lauer Bitterkeit Reflexionen und Rezensionen zum Tochter-Vater-Verhältnis

Maria Neef-Uthoff

Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebst auf Erden. Du sollst deinen Vater ehren, du sollst Gottvater ehren, du sollst den heiligen Vater ehren, und am Karneval verehrst du sogar den Vater Rhein. Mit soviel Vaterehre beschäftigt, siehst du nicht, daß Vater einen Vatermörder um den Hals hat. Den brauchst du nur beizeiten zu packen. Ach du lieber Vater, sagt man in einigen Gegenden, um Gott nicht beim Namen zu nennen. Vater - da sträubt sich mein Nackenhaar. Das ist Unglaube, Mißtrauen, Bitternis, Hohn und ganz zum Schluß unter dicken Wollpullovern versteckt, die uralte Sucht nach etwas Unbekanntem.

„Mein Vater schwieg. 'Du meinst, ich soll lügen?‘ 'Das ist kein Lügen‘, sagte mein Vater, 'das ist Gehorsam.'“

Irini Spanidou hat mit dem Buch „Meine Tochter, mein Stolz“ eine Vatergeschichte geschrieben, wie ich sie ergreifender nie gelesen habe. Ein willkürlicher, brutaler, sadistischer Mensch, der aus seiner Tochter Anna einen Mann machen will. Nicht körperlich, sondern seelisch. Er schenkt ihr Tiere und raubt sie ihr wieder, wenn sie die Tiere liebt. Er gibt ihr Schlangen, eine Krähe, ein Reh. Als die kleine Schwester des Mädchens bei Tisch vom Vater verlangt, selbst das Reh geschenkt zu bekommen, schenkt er es ihr: “'Papa, Du kannst es ihr nicht geben, es gehört mir‘, widersprach ich.

'Du kannst nicht zu Deinem Vater 'Du kannst nicht‘ sagen, Anna. Und wenn etwas Dir gehört, dann erst, wenn ich sage, daß es Dir gehört.‘

'Du hast aber gesagt, es gehört mir. Du hast es mir geschenkt.‘

'Ich nehme es zurück.‘

'Sie kann doch nicht für das Reh sorgen. Du weißt, daß sie es nicht kann.‘

'Dann muß sie lernen, daß sie es nicht kann. Sie muß lernen, daß man nichts besitzen kann, womit man nicht umgehen kann.‘

'Du bist ungerecht.‘

'Die Angelegenheit ist erledigt, Anna. Das Reh gehört Maritsa, und Maritsa wird es versorgen. Wenn Maritsa es nicht versorgt, dann bekommst Du es wieder.‘

'Ich will es nicht wiederhaben.‘ Mein Vater schwieg. 'Ich will es nicht wiederhaben. Es ist mir egal.'“

Das Interesse der kleinen Schwester an dem Reh ließ schnell nach. Bald beachtete niemand das Reh. Anna, die das Reh sehr liebte, und die sich von dem Reh sehr geliebt gefühlt hatte, litt unter der Blockierung durch ihren Trotz. „Wenn ich nach unten ging, wollte es zu mir laufen, immer versuchte es, zu mir zu laufen. Ich stieß es zur Seite. Ich sah es nicht an. Es litt - ich wußte, daß es litt, und haßte es, verachtete es manchmal. Es leidet wie ein Schwächling, dachte ist. Es ist nicht stark, nicht stolz. Ich spürte einen Schmerz einen tiefen Schmerz in mir. Ich wollte keinen Schmerz spüren. Ich wollte, daß mir gleichgültig war, was das Reh fühlte.“

Anna verteidigt ihr Wort gegen ihre weichen Wünsche. Sie führt diesen schweren schweigenden Kampf mit dem strengen Vater gegen sich selbst, ist rebellisch und leidet. Das Reh stirbt aus Vernachlässigung. Anna bleibt mit all ihren traumatischen Gefühlen allein.

In dieser Vater-Tochter-Beziehung geht es um Vernichtung. Wille, Selbstachtung, Selbstliebe müssen zerstört werden. Das Quälen seiner Familie reicht diesem Mann nicht aus. Er quält einen Hund vor den Augen der versammelten Familie zu Tode.

Anna fühlt sich schlecht, weil sie nicht richtig lieben kann, weil sie die unterwürfige Mutter verachtet. Gut fühlt sie sich, wenn sie des Vaters wahnwitzige Forderungen erfüllt: Todesangst aussteht und am Leben bleibt. Dann ist sie so stark, wie der Vater sie haben will.

Wieso unternimmt niemand etwas gegen diesen wahnsinnigen Mann? Er ist ein geachteter Bürger, ein Offizier im Griechenland der fünfziger Jahre. Er regiert nach dem Grundsatz von Befehl und bedingungslosem Gehorsam. Gefühle setzt er gleich mit Schwäche.

Es ist einer, der immer recht hat, dem niemand zu widersprechen traut, wer es wagt, wird niedergemacht. Die scheinbare Omnipotenz eines solchen Vaters verbietet jeglichen Widerspruch. Jederzeit könnte er zum Mörder werden. Das Wahnsinnige in ihm ist nur mit Unterwerfung in Schach zu halten. Alles wird verkehrt. Die menschliche Mutter muß verachtet werden, weil sie nicht hilft. Ihre Unterwerfung - der Preis dafür, daß sie am Leben bleiben darf - zementiert sein Despotentum. Das Mädchen verachtet die Mutter, weil es sie nicht hassen will. Dafür haßt es sich selbst, weil die Mutter doch eigentlich freundlich ist.

Aber die ganze Familie starrt gebannt auf den Vater. Um im Leben überhaupt klar zu kommen, um mit solchen Kerlen wie mit ihm fertig zu werden, muß man so werden wie er. Der Kreis schließt sich. Niemand unternimmt etwas.

Ist das eigentlich wahr? Gibt es Geschichten aus dem Leben, die anders sind? Die erzählen, daß gegen einen väterlichen Tyrannen etwas unternommen wurde? Ich kenne keine. Die Tyrannen aus meiner Vergangenheit wurden versuchsweise mit Nichtbeachtung gestraft. Die Töchter, heute zwischen dreißig und vierzig, sind immer noch damit beschäftigt. Da niemand in der Umgebung des Mädchens gegen den Tyrannen etwas unternimmt, erscheint sein Handeln als richtig. Und alle Versuche, sich dagegen zu wehren, als falsch. Der Tyrann hat recht, auch wenn jeder weiß, daß er zutiefst ungerecht ist. Er macht nie etwas verkehrt, flößt durch sein Gehabe eine solche Angst ein, daß die einzige Überlebenschance das Verstummen ist. Alle Werte geraten durcheinander. Der Tyrann ist in der Lage, Unrecht zu Recht zu erklären. Die einzige Person, die ihm Widerstand entgegen bringen könnte, dem ganzen ein Ende machen könnte, wäre die Mutter. Wenn sie dazu in der Lage wäre, hätte der Tyrann sie nicht geheiratet. Tyrannische Väter sind überzeugt davon, daß sie die Moral verkörpern. Sie verhalten sich so, daß ihnen niemand etwas nachweisen kann. Sie schlagen ihre Kinder, sie schlagen sie aber nicht blau und grün und nicht immerzu. Niemals stellen sie ihr Verhalten in Frage. Sie schäumen über vor Selbstzufriedenheit, Macht und Lüge. Das kleine Mädchen merkt diese Lüge. Es ist die Lebenslüge eines Schwächlings, dem die äußere Ordnung seines jeweiligen Systems zum Rückgrat wird. Das Dilemma des kleinen Mädchens: ihr tut der Papa leid.

„Für kurze Zeit verwischen sich vor mir Farben und Formen, laufen ineinander über. Ich sage nichts. Dann küsse ich Vaters eingefallene Wangen, auf denen weiße Bartstoppeln schimmern. Er küßt mich auch. Ich spüre, weil er mit aller Kraft versucht, seinen Schmerz und seine Rührung zu unterdrücken. Dann küßt er mich auf die Stirn.

Vor der großen Glastür bleibe ich stehen und schaue mich zum letzten Mal nach meinem Vater um. Die Hände in den Hüften, steht er breitbeinig und kerzengerade da. Ob er lächelt oder sehr traurig ist, kann ich nicht ausmachen. Der Schatten seiner weißen Brauen liegt über seinem Gesicht.“ (Aysel Özakin: „Der fliegende Teppich, auf der Spur meines Vaters“.)

Zwischen allen Extremen scheint die Liebe der Tochter zum Vater zu schwanken. Mal überwiegt das eine Extrem, mal das andere. Mal wird geliebt, mal wird gehaßt.

Aber es stimmt nicht so, für uns stimmt es nicht. Für uns stimmt eher die laue Bitterkeit. Mag es daran liegen, daß bundesdeutsche Nachkriegsväter zumeist keine furchterregenden Tyrannen waren, genauso wenig wie herzlich und gefühlvoll? Ein hierzulande gerade herausgekommenes Buch mit dem Titel „Vaters Tochter“, herausgegeben von Heide Wohlers und Anke Kuckuck, bestätigen diesen Verdacht. Die Geschichten die über die Väter erzählt werden, sind ziemlich ohne Spannung. Liegt es an den Vätern, liegt es an den Töchtern, oder liegt es am Verhältnis zwischen den beiden? In keiner Geschichte wird gehaßt, in keiner wird geliebt. Es wird vielleicht geschwärmt, aber in der Schwärmerei liegt die Vorsicht begraben, die Furcht davor, daß sich etwas verändern könnte. Man ist vorsichtig, auch in der Abneigung, und unterkühlt. Kein Papa, der ein Gewalttätiger war? Kein Papa, der ein böser Tyrann war? Und auch keiner, der es richtig gut gemeint hat?

Ein paar eitle Männer kommen zwar zu Wort. Väter, die meinen, daß sie es richtig machen - machen sie ja vielleicht auch -, aber in Zeiten wie den heutigen, wo mithilfe von Reflexion so leicht wieder nur kontrolliert wird, wirkt ein nur reflektierender junger Vater eher unglaubwürdig.

Ich bin enttäuscht. Was habe ich erwartet? Väter und Töchter.

Die dargestellten Verhältnisse zwischen Vätern und Töchtern lassen Gefühl höchstens vermuten.

„Papa tabu - auch in der Frauenbewegung“, beanstanden auf dem Klappentext die Herausgeberinnen. Als vor mehr als zehn Jahren auf einer der Sommeruniversitäten die Mütter zum Thema in der Frauenbewegung gemacht wurden, Mütter und Töchter hieß es damals, war es gerade deswegen, weil die Vater-Töchter-Beziehung schon immer Thema gewesen sei. Im Guten wie im Schlechten. Immer wieder hat es Veröffentlichungen gegeben. Die Bremer Literaturfrauen von 'Zeichen und Spuren‘ gaben ein Heft „Väter und Töchter“ heraus; in Berlin arbeitete seit 1980 eine Gruppe von Frauen zum Thema, Bücher von Töchtern über Väter wurden immer veröffentlicht.

Tabuisiert wurde der Vater bestimmt nicht - genausowenig wie der Mann. Gesprochen wurde über ihn, aber mit viel Resignation und einem Kloß im Hals: „Mein Vater erlaubte mir das nicht“, oder „mein Vater war furchtbar“, oder „mein Vater hatte Angst vor meiner Mutter“, „mein Vater war zu schwach“, es waren Aussagen, die das Nachfragen überflüssig zu machen schienen. Man wußte zu genau, was für eine Sorte Mann frau sich vorzustellen hatte. Verfolgt man die Veröffentlichungen der „schreibenden Frauen“ (1976 bis 1980), so findet frau auch hier die kontinuierliche Auseinandersetzung mit alten sterbenden Vätern.

Vielleicht bin ich deswegen vom Tochter-Vater-Buch enttäuscht, weil es fast gar nicht über diesen Kloß im Hals hinausgeht. Das sehr schön aufgemachte Buch mit vielen Fotoalbumbildern und einem sehr lebendigen Layout fordert geradezu heraus zu lesen, zu blättern und sich auf die Suche zu machen.

Vatermörderinnen muß man woanders suchen. Der Mann, der nie da war, der glühend geliebt und enttäuscht gehaßt wurde, mit diesem Mann erneut in Berührung zu kommen, ihm töchterlich gerecht werden zu wollen, ohne die eigenen Grenzen zu verlassen, das ist schwer.

Wer Vatermörderinnen sucht, steht im Verdacht, selbst eine zu sein, oder eine sein zu wollen. Stimmt. Mein Vater gleicht sehr dem Tyrannen. Abgöttisch geliebt und abgrundtief gehaßt. Ich erinnere mich gut an den Haß, der nicht sein durfte. Jeden Augenblick fühlte ich ihn, und schämte mich dafür. Aber das ist meine Geschichte und deswegen eine andere.

In „Vaters Tochter“ gibt es neben den Berichten einige ausgezeichnete analytische Teile. Zum Beispiel die Geschichte von der Vatertochter und dem Muttersöhnchen von Felix Förster. Vatertochter ist Brünhild, sie ist Karrierefrau, im Zwiespalt. Der mächtige Papa steckt sehr in ihr drin. Sie hat nie die Möglichkeit gehabt, genügend weiblich zu werden. Muttersöhnchen hat Angst vor „mächtigen Weibern“, fühlt sich aber von ihnen angezogen, weil er weiß, sie kommen ja doch nie richtig zusammen. Erlösung gebe es für Brünhild nur, wenn sie sich ein Beispiel an der aufmüpfigen Psyche in der griechischen Sage nehme - meint Herr Förster. Psyche reicht dem Mann in sich selbst die Hand, sie guckt hin, nimmt die Verbindung auf, und verhindert, daß er dumpf in ihr herumgärt und dauernd sein Recht erzwingt. Welche Erlösung Muttersöhnchen erfahren kann, verschweigt uns der Autor, vielleicht darf es so bleiben wie es ist, wenn sich nur Brünhild ordentlich verändert.

Lesenswert sind auch die Märchenanalysen von Sigrid Früh über Tochter-Opfer, Tochter-Gattin und Lieblingstöchter. Alle sind nicht abgelöst von Papa, bis auf Prinzessin Mausehaut, die ihrem Vater als souveräne Frau entgegentreten kann.

Um bei den Märchen zu bleiben: Die Geschichte von Regine Reichwein „Von einer die auszog, das Lachen zu lernen“ ist eine schöne weibliche Erzählung, die damit schließt, daß die Hexe, die am Rande der Welt lebte, auch anfängt mit dem Lachen und wieder in die Welt reingeht.

Am Ende von „Vaters Tochter“ ein Lachen. Gegen alles Grämliche einer verkorksten Liebe.

Irini Spanidou: „Meine Tochter, mein Stolz“, 28 Mark

Aysel Özakin: „Der fliegende Teppich“, 6,80 Mark

Anke Kuckuck/Heide Wohlers: „Vaters Tochter“, 19,80 Mark

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