Im Kriegsfall offene oder zerstörte Stadt?

■ Berlin wird bei militärischem Konflikt zum Massengrab / AL schlägt völkerrechtliches Konstrukt der „Offenen Stadt“ vor, die nicht bekämpft wird / Alliierte Streitkräfte sollen nur noch symbolisch vertreten sein / Ausführliche Dokumentation alliierter Präsenz vorgelegt

Einen atomaren Angriff braucht die Berliner Bevölkerung im Kriegsfall nicht zu fürchten: Das erscheint den Militärstrategen offenbar zu unökonomisch, weil die Menschen in die U-Bahn-Schächte flüchten und sich zumindest teilweise vor den Waffenwirkungen schützen könnten.

Kein Grund zur Beruhigung. Denn die Stadt erscheint, so der Militärexperte Erich Schmidt-Eenboom, „geradezu prädestiniert für einen chemischen Angriff“. Mit den hochgiftigen Kampfgasen - die auch in den letzten Zufluchtswinkel eindringen, würden aus den U-Bahn-Tunneln riesige Massengräber.

Diese Horrorvisionen sind Bestandteil einer Studie, die Schmidt-Eenboom im Auftrag der AL über die militärische Präsenz der alliierten Streitkräfte erstellt hat. Der Titel „Fighting City“ beschreibt programmatisch die Lage der Stadt in einem bewaffneten Konflikt: Hier, so Schmidt-Eenboom, würde gekämpft, dafür würden die alliierten Truppen trainiert. Der Kampf finde überall statt, ein Entrinnen oder eine Evakuierung der Bevölkerung sei nicht möglich. Die für den Kriegsfall gebauten 20.000 „Schutzplätze“ seien eine Farce; sie hielten den Angriffen nicht stand.

Atomwaffen würden hier zwar nicht gelagert, wohl aber gebe es eine Truppe im Flughafen Tempelhof für Unfälle mit Nuklearwaffen. Offenbar, folgert die Studie, die detailliert die alliierten Militäreinrichtungen und ihre Funktionen dokumentiert, sollen in Tempelhof im Ernstfall Atomwaffen umgeschlagen werden.

Angesichts der militärisch aussichtslosen Lage schlägt Schmidt-Eenboom als neue Idee für eine politische Forderung an die Alliierten die Formel „Offene Stadt“ vor. Die Offene Stadt sei ein „völkerrechtliches Konstrukt“ aus dem 19.Jahrhundert, bei dem sich die kriegsführenden Seiten im voraus darauf einigen, daß bestimmte Städte oder Gebiete im Kriegsfall nicht verteidigt werden.

Das Konzept der Offenen Stadt soll in Zukunft als mögliche Politikrichtung in der AL diskutiert werden. Fraktionsvorsitzender Wieland sieht in diesem Begriff die Fortsetzung des Grundsatzpapiers zur Berlin- und Deutschlandpolitik, das die AL im April vorgelegt hat. Darin werden die Reduzierung der alliierten Truppenzahlen auf symbolische Größen gefordert und das Viermächteabkommen und die Folgevereinbarungen grundsätzlich anerkannt. Für ihre äußere Sicherheit reiche eine politische Garantie der Alliierten, meint Wieland. Kritik an der neuen Denkrichtung kam gestern aus allen Richtungen.

Die SEW kritisierte, die AL mache „eine erstaunliche Befangenheit in altem Denken deutlich“. Der „Bedrohungslüge“ werde genauso Nahrung gegeben wie auch der „Illusion“, West -Berlin könne aus einem „kriegerischen Konflikt unbeschadet hervorgehen“. Die CDU nannte in gleich zwei Presseerklärungen die Vorschläge „abenteuerlich und realitätsfremd“. Wer „einseitig Vakuen schaffe“, so warf Fraktionschef Buwitt der AL vor, „lädt zu militärischen Abenteuern ein, statt sie zu verhindern.

E.K.

„Fighting City - Struktur und Funktion von Militär in Berlin (West)“ von Erich Schmidt-Eenboom, kostenlos bei der AL-Pressestelle im Rathaus Schöneberg (mit weiterführendem Literaturverzeichnis).