Kontinuität und Diskontinuität

■ Ein Gespräch mit Hans-Ulrich Wehler über den „Historikerstreit“

Armin Trus

taz: Herr Wehler, Sie haben mit Ihrem polemischen Essay „Entsorgung der deutschen Vergangenheit?“ den bislang gepfeffertsten Beitrag zum grassierenden Historikerstreit geliefert. Es war klar, daß der „Gegenangriff“ nicht ausbleiben wird. Für Hillgruber z.B. haben Sie sich nunmehr „diskreditiert“. Nolte hält Sie für den „besseren Treitschke“, und Konrad Adam hat in der 'FAZ‘ gemeint, durch den Nachweis einiger Ungenauigkeiten das ganze Buch in Grund und Boden verdammen zu dürfen. Wird der diesjährige Historikertag in Bamberg ähnlich von Animosität geprägt sein wie der in Trier 1986?

Wehler: Das glaube ich nicht. Ich weiß gar nicht, ob Teilnehmer an dem „Streit“ - außer Stürmer, der eine Sektion leiten wird - auf dem Historikertag anwesend sein werden: Nolte ist nie ein Mann gewesen, der Kongresse besucht hat; von Hillgruber habe ich gehört, er sei krank.

Sicher meinen einige Leute, ich hätte den Essay polemisch überzogen. Daher kann es in der Mitgliederversammlung intern zu Auseinandersetzungen kommen. Sollte das der Fall sein, muß das eben diskutiert werden.

Was die Kräfteverhältnisse angeht: Die relative Eindeutigkeit der Kritik von vielen an Nolte und Hillgruber ist doch das an und für sich Erstaunliche an einer so lange konservativen Zunft wie der der Historiker. Zu den von Adam registrierten sog. Ungenauigkeiten: Dazu kann ich später einmal eine Replik schreiben.

Meine Frage spielte eher auf eine Formulierung Thomas Nipperdeys an, mit dem „Streit“ seien Gräben in der Historikerzunft aufgerissen worden, ja, dieser ganze „Streit“ stelle überhaupt ein „Unglück“ dar. Ähnlich wird es, vermute ich, Immanuel Geiss in seinem demnächst bei Siedler erscheinenden Buch mit dem programmatischen Titel „Die Habermas-Kontroverse“ formulieren.

Zu Nipperdeys Bedauern, daß der „Streit“ unnötig gewesen sei und einen notwendigen Konsens gesprengt habe, kann ich nur sagen, daß ich kein Verehrer eines Konsenses per se bin. Wenn es zu einem Konflikt über solche prinzipiellen Fragen kommt, muß er öffentlich ausgetragen werden. Danach muß sich ein neuer Konsens einspielen, oder er muß irgendwie neu austariert werden.

Warum Geiss, der ja in der „Fischer-Kontroverse“ an Fischers Seite wacker gestritten hat - ich kenne auch nur Teile von dem Manuskript -, so scharf in der Formulierung gegen Habermas argumentiert und sagt, die Konservativen müßten doch „koalitionsfähig“ bleiben und dürften nicht verprellt werden, das ist, wie viele andere auch meinen, weiterhin erklärbar dadurch, daß er als pragmatischer SPD -Mann in Bremen von linken Studenten in die rechte Ecke gestellt wurde; in der fühlte er sich nicht wohl und auch völlig mißverstanden. Habermas hält er offenbar für den geheimen Inspirator dieser Linken, was in jeder Hinsicht abstrus ist, denn wer die Studentenszene seit den späten sechziger Jahren kennt, der weiß, daß der Einfluß dieser „großen Figuren“ von '68 zunehmend nachließ.

Würden Sie es im nachhinein nicht als Fehler ansehen, den „Historikerstreit“ durch Ihren Essay auf die „Viererbande“ (Nolte, Hillgruber, Hildebrand und Stürmer) reduziert und damit personalisiert zu haben, anstatt ihn in den Rahmen allgemeiner Zeitgeistströmungen oder überhaupt strukturell bedingter Probleme zu rücken? Anders ausgedrückt: Welche argumentative Relevanz beanspruchen Sie mit dem Aufdröseln von Opportunismus und Nepotismus im Wissenschaftsbetrieb Phänomene, die es übrigens ja nicht nur bei den „Rechten“ gibt?

Ich wollte den „Streit“ aus einer dezidiert parteiischen Position schildern, und ich habe mich insofern eng an den Konfliktlinien orientiert und chronologisch voranbewegt. Ich habe mich also auf das konzentriert, was ich als Historiker über die im „Streit“ aufgetretenen Probleme und Personen wußte, aber beispielsweise einem jüngeren Doktoranden, den der „Historikerstreit“ brennend interessiert, weil er über die Zeit des sog. „Dritten Reiches“ arbeitet, an bestimmten Hintergrundinformationen fehlt.

Ein Preis dafür ist sicher, daß der Versuch dabei zurücktritt, das, was Sie strukturelle Argumente nennen, ausführlicher zu diskutieren. Ich habe das ja nicht ganz vermieden, sondern versucht, einige Äußerungen mit dem „Wende„-Klima und den Veränderungen in der politischen Großwetterlage in Verbindung zu bringen. Daran halte ich auch fest: Leute wie Nolte und Hillgruber hätten in den „guten Zeiten“ der sozialliberalen Koalition das nicht so in die Öffentlichkeit getragen. Es gehörte schon eine bewußte Senkung der Schamschwelle dazu - z.B. durch Strauß, man könne nicht das Büßerhemd als Daueraufgabe tragen, oder Dreggers unsäglicher Brief an die amerikanischen Abgeordneten, er habe mit seinem Bruder gewissermaßen schon im März '45 die NATO an der Oder verteidigt und infolgedessen sei Bitburg geboren. Das paßte alles in ein allgemeines politisches Klima hinein, daß z.B. Stürmer an der Festschrift für Strauß mitgeschrieben hat mit einem dieser schrecklichen Mittellagenartikel, daß Hillgruber den Kanzler Kohl in der 'Welt‘ interviewt hat - diese Historiker sind ja alle keine politischen Puristen, die sich von der Öffentlichkeit ferngehalten hätten und jetzt mit gutem Gunde sagen könnten „Wir sind reine Wissenschaftler“ (so Hillgruber und Nolte immer in der letzten Zeit).

Ich gebe aber zu, daß man versuchen könnte, die Veränderungen des „Zeitgeistes“ und bestimmte strukturelle Bedingungen schärfer herauszuarbeiten. Das wäre aber für mich nicht so einfach gewesen, da ich eine große Abneigung habe, mit einem schlichten „Links-Rechts„-Schema zu operieren.

Ich komme noch einmal auf den Nepotismus in Wissenschaftsbetrieb zurück. Was bringt das Aufdröseln desselben letzlich argumentativ in diesem „Streit“, wo es das alles doch auch bei den „Linken“ gibt? Wichtiger wäre es doch gewesen, den „Historikerstreit“ in einen weiter gefaßten Kontest zu rücken und ihn von dorther zu begreifen. Wolfgang Fritz Haug hat das z.B. in seinem Buch „Vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt“ getan, und ähnlich sind auch die Autoren in dem gerade bei „Luchterhand“ erschienenen Sammelband „Die neue deutsche Ideologie“ verfahren.

Ich wollte mit den persönlichen Verflechtungen nachweisen, daß es da eine relativ kleine, zum Teil heterogene - es gibt einen Riesenabstand zwischen Nolte und Stürmer - aber doch auf anderen Gebieten wieder homogene Gruppe von Historikern gibt, die personalpolitisch - das soll man nicht unterschätzen - große Institute besetzen und einen bestimmen Kurs einschlagen kann. Da werden dann die entsprechenden jüngeren Wissenschaftler angestellt, und so etwas ist alles nicht folgenlos.

Daß ich diese persönlichen Verbindungen offen ausgesprochen habe - vor allem im Zusammenhang mit der Besetzung der Direktorenstellen der Deutschen Historischen Institute in Paris, London und Washington, ist mir ja auch sehr vorgeworfen worden. Ich will damit nicht auf eine Verschwörung hinaus in dem Sinne, man habe sich das Ziel gesetzt, alle großen Institute zu erobern, aber es ist eben auch kein Zufall, was sich da vollzieht. Sieht man sich den bisherigen Ausgang an, ist das ein klarer Bodengewinn für die Konservativen und eine wissenschaftspolitisch heikle Sache. Daß das einmal hinaus in die Öffentlichkeit muß, ist mein eigentlicher Grund, weshalb ich mich auf diese persönlichen Dinge eingelassen habe.

Für relativ viel Furore im „Streit“ hat einer der kürzesten Beiträge gesorgt: Ernst Tugendhats Leserbrief „Wie weit sind die Positionen von Nolte und Habermas voneinander entfernt?“ Tugendhat hat darin die auch von Habermas hochgehaltene politische Kultur des Westens kritisch hinterfragt, indem er die Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen als zu dieser Kultur gehörig bezeichnete. Sie haben dem entgegnet, Tugendhat arbeite mit „unverhülltem, plattem Antiamerikanismus“. Nun ist Ihre amerikanophile Position ja kein Geheimnis. Ich frage mich nur - und hiermit Sie -, wie Sie diese Beurteilung eines selbsternannten Weltpolizisten, als der sich die USA ohne Zweifel gerieren, argumentativ rechtfertigen können?

Zunächst einmal hat die ganze kritische Debatte der amerikanischen „revisionistischen“, also regierungskritischen Historiker seit William Williams und anderen ergeben, daß die Amerikaner in der Zeit, als sie das Atommonopol hatten, kein einziges Mal, auch nicht intern in Amerika kommen sie ja sofort an die Akten heran -, damit als Drohmittel operiert haben. Die ganze Strategie der Abschreckung beruht auf beiden Seiten - das ist bei Machiavelli nicht anders als heute - auf der Prämisse, daß man den Gegner versucht in Grenzen zu halten mit der Drohung, man schreite gegebenenfalls zum Einsatz von Atomwaffen. Darin kann ich überhaupt nichts Westliches erblicken. In meinen Augen ist das Ganze ein normales Powerplay unter den Bedingungen des Atomzeitalters.

Das war meine Kritik an Tugendhat, denn er mußte wissen, daß sich bei Habermas diese prinzipiell amerikafreundliche Einstellung auf die politischen Werte des Systems und die fortdauernden Wirkungen der Aufklärung in den Vereinigten Staaten bezieht und, weiß Gott, nicht auf Reagan und die jeweils aktuelle Politik im Persischen Golf oder in Mittelamerika. Das konnte ihm nach all den gemeinsamen Jahren in Starnberg und der langjährigen Freundschaft mit Habermas völlig präsent sein, und das brauchte man, selbst während dieser Kontroverse, nicht in der Form eines Leserbriefes abzuhandeln.

Könnten Sie konkrete Beispiele für Kontinuität und Diskontinuität in bezug auf den Nationalsozialismus nennen?

Nehmen Sie z.B. das wirtschaftliche Wachstum. Gewiß hat da Hitler ein paar Wachstumssritzen gegeben, aber der gesamte weltwirtschaftliche Aufschwung trug ihn auch mit. An den Wachstumsraten der deutschen Industrie erkennen Sie den Regimewechsel nicht. Da ist ein langfristig ansteigender Trend. Das gilt auch für den sozialgeschichtlichen Bereich: Da ist sehr viel Kontinuität und nicht so viel Bruch, wie man glaubt, wenn man von der dramatischen politischen Geschichte ausgeht.

Eine Diskontinuität verbirgt sich aber beispielsweise hinter dem Begriff der „Volksgemeinschaft“, den wir alle nur für ein ideologisches Versatzstück und eine plumpe Lüge gehalten haben. Offensichtlich hat das Versprechen, Klassengegensätze - auch übrigens den schlimmen deutschen Gegensatz zwischen „Gebildeten“ und „Ungebildeten“ - zu überwinden, in dieser Zeit doch sehr viel stärker gewirkt. So habe ich z.B., als ich als Student bei Bayer-Leverkusen im Akkord gearbeitet habe, immer wieder von alten SPD -Arbeitern gehört: Es war doch toll, sagten diese alten Männer, daß am 1.Mai die Direktoren mit uns in einer Reihe marschieren mußten; das hat der Adolf doch fertiggebracht. Da sprüte man eine geheime Anerkennung. Daß da auch Verführungskünste eine Rolle spielten, ist natürlich klar.

Sie werden im Rahmen Ihrer „Gesellschaftsgeschichte“ demnächst auch über den Nationalsozialismus schreiben. Können Sie einige Andeutungen darüber machen, wie Sie Broszats Plädoyer praktisch umsetzen werden?

Die Bilanz wird eine Entdämonisierung der Zeit sein. Es wird, hoffe ich, sehr viel deutlicher werden, auf welch einem breiten Konsens von den Führungseliten bis in weite Teile der Arbeiterschaft hinein die Wirkung des Nationalsozialismus beruhte. Das kann man nicht alles auf die „Verführung“ durch die charismatische Figur des „Führers“ schieben. Da sind alte Traditionen im Spiel, die wirksam sind. Ich glaube, daß unter dem Strich eine neue Geschichte des „Dritten Reiches“ im Sinne von Broszats Historisierungsappell sehr viel kritischer gegenüber bestimmten Kontinuitätslinien der deutschen Geschichte ausfällt. Eine solche Geschichte schließt aus, Hitler als den Import des Bösen aus Österreich darzustellen, so wie Gerhard Ritter und die älteren Historiker das nach '45 versucht haben.

Friedländer hat sich m.E. ja eher über den Zeitpunkt des Plädoyers gewundert und nach den Hintergründen für den „plötzlichen“ Appell, den Nationalsozialismus zu historisieren, gefragt. Mir käme es aber nicht so sehr darauf an, sich gegen eine Historisierung aufzulehnen, sondern es ginge mir vielmehr darum, geschichtliches Versagen in den Mittelpunkt des Geschichtsinteresses zu rücken. Ich würde also eine Aktualisierung dieses Versagens

-gewissermaßen als Handlungsanleitung für Gegenwart und Zukunft - für wichtiger halten.

Auf ein mögliches Richtungskriterium hat in diesem Zusammenhang Christoph Türcke in seinem Beirag zum „Streit“ in der Zeitschrift 'Merkur‘ hingewiesen. Türcke diagnostizierte ein - wie ich es nenne - „neues kommunikatives Beschweigen“ der Historiker hinsichtlich des etwas strapazierten Horkheimer-Satzes „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Sie erwähnen zwar Türckes Aufsatz, behandeln aber nicht die in ihm angesprochene Thematik. Kann ich davon ausgehen, daß Sie keinerlei Zusammenhang zwischen einer Vergangenheitsaufarbeitung, die diesen Namen auch wirklich verdient, und einer radikalen Kaptialismuskritik sehen?

Der Horkheimer-Satz ist ja weithin zu einem Ammenmärchen geworden, als ob es genüge, mit Hilfe einer kritischen Kapitalismusanalyse die Problematik erst in Italien zu untersuchen, wo sie - halb Industrie- und halb Entwicklungsland - ohnehin auf riesige Probleme trifft, und dann im Hinblick auf Deutschland die Entwicklung zum Nationalsozialismus und seinem Regime hinreichend zu erklären. Ich selber meine - schon von meinen Interessen an der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte her -, daß man ohne eine angemessene Berücksichtigung der sozialen und ökonomischen Faktoren überhaupt nicht das Handlungsfeld und die Rahmenbedingungen für den zweiten Aufstieg der Hitler -Bewegung nach dem gescheiterten Münchner Anlauf schildern kann. Aber man sehr gut argumentieren, daß es auch ein Defizit an bürgerlich-liberaler Kultur gewesen ist und nicht so sehr ein autoritäres Potential im Kapitalismus, das mit dazu geführt hat, diese eigentümliche Widerstandlosigkeit der Deutschen zu erklären. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, daß man etwas, was zunächst „nur“ wie ein neues autoritäres Regime wirkte, nachdem man gerade die Herren Papen und Schleicher hinter sich gebracht hatte und sich die „Zähmung“ zutraute - daß man diese rasante Steigerung im autoritären Charakter des Herrschaftssystems fast willenlos und widerstandslos hinnahm - von den honorigen Ausnahmen vor allem im Bereich der Arbeiterbewegung abgesehen. Ich wehre mich also gegen den Monismus, der in dem Horkheimer-Satz steckt.

Was würden Sie dem Horkheimer-Satz entgegenstellen?

Ich würde mit einer Ellipse, mit zwei Brennpunkten, argumentieren, nämlich einmal mit den sozioökonomischen Bedingungen, dann aber auch sehr stark, und das ist dialektisch miteinander verschränkt, mit dem ungeheuren Legitimationsverlust des politischen Systems aufgrund der Veränderungen, aber eben auch der ganzen politischen Bürde seit 1848, 1871, 1918 - mit langlebigen Prozessen also, so daß schließlich die Mehrheit der Deutschen nicht mehr geglaubt hat, daß diese Republik den Aufgaben der Zeit gewachsen sei. Und ich würde mich hüten, das nur auf eine kritische Analyse des deutschen Industrie- und Agrarkapitalismus in diesen Jahren zu reduzieren, sondern würde relativ gleichgewichtig die verschiedenen Faktoren und - wo immer möglich - deren wechselseitige Abhängigkeit analysieren.

Herr Wehler, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führte Armin Trus