Sehen oder Nichtsehen

■ oder: Wenn Operngläser nicht ausreichen

Die Zeiten ändern sich: „Damals in Woodstock“, erinnert sich Kollege W., „war von den Musikern auch nicht viel zu sehen, aber da legten sich die Leute auf die Wiese und picknickten“. Davon können wir heute nur noch träumen. Der grüne Fußballrasen ist mit Brettern zugedeckt, „damit er besser atmen kann“, und so sind wir doch auf gute Sicht angewiesen, um bei den musikalischen Großspektakeln nicht nur einem „gesellschaftlichen Ereignis beizuwohnen“, wie Großveranstalter Jean Baptiste Doerr von „Mama Concerts“ letztens anmerkte, sondern Zuhörer und Zuschauer eines Konzertes zu sein, für das wir immerhin 50 Mark bezahlt haben. Und wer sich nicht zu den „harten Fans“ rechnen will, die Quetschungen und Luftnot gerne in Kauf nehmen, um ihrem Star ein wenig näher zu sein, also wer eher um einen Sitzplatz als um die vorderste Bühnen-Front kämpft, dem bleibt nichts anderes übrig, als mit Feldstechern oder Operngläsern bewaffnet, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Doch wer kein Plätzchen an der Gegengerade gefunden hat, ist mit diesem optischen Rüstzeug auch schlecht bedient, um Bruce Springsteen in einem sich konturenlos knäuelnden Menschenhäuflein ausmachen zu können. Doch da haben die Veranstalter mitgedacht: Fünf Kameras waren hautnah dabei und zeigten auf der Leinwand live, was mit oder ohne Hilfsmittel nicht zu erkennen war. So blickten wir alle angestrengt auf Technicolor - es waren definitiv die besseren Bilder, wozu brauchen wir Wiesen?

Regina Keichel