Dachschäden

■ Das Europäische Haus und seine Untermieter

Gabriele Goettle

Brecht dem Staat die Gräten, alle Macht den Räten!“ Jener holde Wunsch erklang 1968 aus linken Kehlen. Vergeblich. Dennoch erleben wir heute das unverhoffte Schauspiel: Dem Nationalstaat brechen die Gräten. Das hat der Staatsfeind Nummer Eins getan. Er emanzipiert sich vom Bremsklotz. Keine Linke kann je so staatsfeindlich sein wie es der Imperialismus ist. Ihm ist Erfolg beschieden. Ein „Markt ohne Grenzen“.

Alles, was dem Staat lieb und teuer war, muß den höheren Sachzwängen weichen. Die Welt ist nicht mehr in Ordnung. Wofür es unter Helmut Schmidt mindestens Berufsverbot gab, kann nun anstandslos vom Ministerrat in den Rang geltenden Rechts ehoben werden. Hieß es bei uns zuvor „Bundesrecht bricht Landesrecht“, so heißt es nun „EG-Recht bricht Recht der einzelnen Mitgliedstaaten“. Ab 1992 werden vier von fünf Gesetzen europäischen Ursprungs sein. Sie werden sich auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung einnisten, ohne demokratisch legitimiert zu sein. Wo bleibt der Staatsschutz? So etwas entspricht dem Tatbestand des Landesverrats, Paragraph 81 Abs.2. Ganz zu schweigen von der Nötigung der Verfassungsorgane, Paragraph 105 (ebenso StGB). Ade Rechtsstaat.

Aber man kann in der Klassengesellschaft nicht beides haben, Kapitalismus und Demokratie. Traurig ist für die ehemalige Linke, die sich gerade zum Establishment gemausert hat und zu Bekennern des demokratischen Staates. Die von Herzen kommende Loyalität ist umsonst gefühlt. Der Staat führt sich selbst und seine heiligsten Kühe zur Schlachtbank. Man erkennt sie klopfenden Herzens wieder. Eben jene waren vor 20 Jahren noch Ziel folgender Attacken und Forderungen:

1.Zerschlagung des Staates. Oder wenigstens im Leninschen Sinn die Hoffnung, es möge eines Tages vielleicht nicht der Staat, aber doch der Nationalstaat absterben zugunsten einer Menschheitsverbrüderung. Nun stirbt er ab, aber zugunsten seiner Auferstehung als imposanter Großstaat. Unternehmungslustige plutokratische Brüder fusionieren mit all ihren Vaterländern und schließen sich eng zusammen. Die feste Werbung hat eiserne Außenzollgrenzen. Eine angehende europäische Supermacht auf dem Weltmarkt ist die sicherste zivile Abschreckung Richtung Osten. Die vielbeschworene Völkerverständigung ist in der Praxis Völkertrennung.

2.Abschaffung des Privateigentums. Es wird abgeschafft das Privateigentum an Volkssouveränität. Dem Stimmvieh ist der Boden freiheitlich demokratischer Grundordnung unter der Wahlurne weggerissen. Die Staatsgewalt des Volkes geht an die europäische Gemeinschaft über, in der nach Maßgabe der Wirtschaftlichkeit alles weitere auf dem Verordnungsweg geregelt wird.

3.Einführung der Planwirtschaft. Die EG wird zwar keine freie Marktwirtschaft haben, dafür aber gleich zwei Planwirtschaften: die der Monopole, die seit eh und je ihre Geschäfte über Marktabsprachen regeln, und eine von Brüssel aus dirigistisch funktionierende Verwaltungs- und Wirtschaftsordnung.

Verrat auf der ganzen Linie. Selbst die Kirche, die vor dem ungenierten Umgang der APO mit der Moral noch zurückschauderte, opfert ihre kostbarsten Grundsätze nun freiwillig hin: Der heilige Bund der Ehe darf zum Beispiel durch künstliche Befruchtung (heterologe Insemination) zu einem Sündenbabel werden. Der Ehebruch ist zugunsten der Fortpflanzung legalisiert. Dem Inzest werden Tür und Tore aufgerissen durch Anonymisierung des Samenspenders, Embryosplitting und Mehrlingsgeburten. Selbst die Trennung rein sexueller Lust von der Pflicht zur Fortpflanzung ist gestattet. Das sind Meilensteine auf dem Weg zum moralischen Bankrott der Kirchen. Vorbei die Zeit, als Ficken noch ein schmutziges Wort und die europäischen Ideale in Staat, Kirche und Gesellschaft noch sauber waren. Wenn derart lang erprobte und mit aller Staatsgewalt verteidigten Grundfesten fallen, nicht durch den „Druck der Straße“, sondern durch die Inhaber der Geschäfte, dann wird der vielzitierte Normalbürger heimatlos. Er hat sich immer am Status quo erfreut - man gönnt sich ja sonst nichts - und nun steht er vor dem Nichts, vor der großangelegten Zwangseinweisung ins (west-)europäische Haus. Hier ist nun das Dach über dem Kopf, ein Heim, das es erst einmal gilt, trockenzuwohnen.

Der Ruf nach den „politisch Verantwortlichen in diesem Lande“, vormals prompt durch massive Präsenz der Polizeiorgane beantwortet, verhallt ungehört. Man hat jetzt emanzipiert zu sein, mobiler Europäer, freies Individuum auf freiem Markt. Dem Bürger stehen alle Grenzen offen und das Recht, sich nach Belieben auf dem Gesamtterritorium überall niederzulassen respektive nach Maßgabe der Beschäftigungsangebote zu zirkulieren. In dieser Stunde Null der gleichen Chancen ist man seines eigenen Glückes Schmied, befreit von der entmündigenden Fessel des Wohlfahrtsstaates kann jeder selbst bestimmen, wie der Notgroschen für Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter von ihm angelegt wird, ob nun in Aktien oder bei Privatversicherungen. Das entlastet die Spannungen zwischen den Sozialpartnern. Durch den freiwilligen Verzicht auf die sozialen Errungenschaften ist der Arbeiter dem Unternehmer gleich mehr wert. Es ist alles eine Wettbewerbsfrage, und der Arbeiter hat es selbst in der Hand, einen attraktiven Standort zu bieten. Es wird viel Flexibilität erfordern, im Wohlstandsgefälle der Mitgliedsländer die Ware Arbeitskraft vor Wettbewerbsverzerrung zu schützen.

Die zentrifugalen Kräfte, die jede Klassengesellschaft produziert, werden auf dem neuen Binnenmarkt in idealer Weise wirksam. Bei höherer Umdrehungszahl wird auch noch der letzte Rest von Klassenkampfstimmung dem Sog der Fliehkraft folgen. Die Illusion, jedes Volk könne sich sein Gesellschaftssystem nach Belieben wählen, wird für alle Mitgliedsländer endgültig der Vergangenheit angehören. Ansonsten geht alles, was den Markt nicht verengt oder verzerrt: Papst, Königinnen und Könige, sozialistische Parteien und Präsidenten, kommunistische Parteien und Gewerkschaften ebenso wie faschistische Parteien und Organisationen. Auch die Ermangelung einer NATO -Mitgliedschaft, wie im Falle von Irland, war kein ernstes Hindernis. Demnächst ist mit der Aufnahme einer Militärdiktatur zu rechnen. All diese nationalen Besonderheiten werden geduldet als harmlose Marotten. Einzig den grünen Parteien wird nun verstärkte Aufmerksamkeit zukommen. Sie leisten wertvolle Dienste durch Apportieren der weggeworfenen Gifte und liegengebliebenen Altlasten. Unternehmerethik und ökologisches Denken zahlt sich an der Börse aus, Degussa beweist es. Dieses Europäische Haus hat Tradition. Seine eigentümliche Atmosphäre der Heimeligkeit erinnert an die von Schlacht-, Zucht-, Irren- und Arbeitshäusern.

Heute bewältigt man die anfallenden Mengen, egal, ob sie nun aus Schlachtvieh, Menschen, Genforschungsproblemen oder Hühnern bestehen, in rationellen Groß-Einheiten wie Kompaktschlachthallen, Trabantenstädten, Großlabors und vielstöckigen Legebatteien. Nichts lag näher, als auch die nationalen Märkte zu einer Groß-Einheit zusammenzufassen. Um so verwunderlicher ist der späte Zeitpunkt. Die römischen Verträge vom März 1957 sahen in drei Phasen den offenen Binnenmarkt für die sechs Mitgliedsländer vor, wobei die letzte Phase 1967 abgeschlossen sein sollte.

Was hat sich in den Weg gestellt? Vermutlich zuerst einmal eine unvorhergesehene europäische Vereinigung mit internationalistischem Anspruch, die ganz anderes im Schilde führte. Die Studentenbewegung brach wie eine drohende Kulturrevolution über die Mitglieds- und Nichtmitgliedsländer herein. Es herrschte Prosperität, die Amerikaner führten Krieg gegen Nordvietnam, China wurde Atommacht, russische Panzer fuhren in Prag ein, und hierzulande gaben sich Diktatoren auf Staatsbesuch die Klinke in die Hand. Die allgemeine Unruhe mußte erst gelegt werden und sich legen. Die Staaten widmeten sich aufopferungsvoll der inneren Sicherheit. Aber erst die fortschreitende Rezession brachte die notwendige Ruhe im Land. Der 25jährige Zeitverlust muß nun in aller Eile halbwegs kompensiert werden.

Fast so sehr wie die Geschäftswelt bejubeln die Kulturschaffenden das neue Europa. Sie stellen sich „kulturelle“ Fragen und spüren ihrer „europäischen Identität“ nach. Einen großen Teil ihrer Zeit verbringen sie, getragen von der Europa-Welle, auf einschlägigen Kulturveranstaltungen in Athen, Florenz, Amsterdam und Berlin E88. Sie sind aufgeschlossene Kosmopoliten ohne Interesse am Internationalismus. Nur eine verschwindende Minderheit jubelt nicht und weist auf die Unvereinbarkeit von Brüssel und Europa hin. Aber auch sie muß ja ihren Geschäften nachgehen. Selbst eine marxistisch hartgesottene „west-östliche Diva“ erstarrt zur Ikone inmitten der europäischen Kulturbesessenheit.

Die Kulturschaffenden tun so, als seien sie verzaubert zu illustren Gästen von Friedrich II. und eingeladen, weltbürgerliche Konversation zu machen. In einem Artikel von György Konrad (FAZ, 2.Juli88 über - wie es im Untertitel heißt - „Europa, eine Methapher, die zusehends Gestalt annimmt“, sind alle derzeit beliebten Europa-Klischees vertreten. Er schreibt: „Die Schriftsteller müssen sich nicht sonderlich darum kümmern, wie die wirtschaftliche und politische Integration Europas zustande kommen wird (...) ich meinerseits halte die Pflege Europas als fiktive Metapher für interessanter.“ Die fiktive Metapher wirkt in der Tat gepflegt: „Es reift die zivile Gesellschaft Europas heran. Eine Gesellschaft von Zivilisten, die sich jeglicher Uniform verweigern, die sich jedwedem Klischee entziehen. Die internationale Gesellschaft ist die Assoziation der internationalen Intelligenz.“ Einmal abgesehen davon, daß sich vom deutschen Schützenverein bis zur englischen Palastwache - von der Polizei ganz zu schweigen - alle Uniformträger das Ansinnen verbieten werden, kann diese „internationale Intelligenz“ keine politischen Tatsachen schaffen, da es ihr augenscheinlich an kritischem Antizipationsvermögen absolut mangelt.

Die Künstler und Intellektuellen befinden sich mehrheitlich immer dort, wo sie keinen Schaden stiften können: am Schlepptau des Schlachtschiffes mit ziviler Handelsfracht. Da klammern sie sich fest wie die Miesmuscheln und geben sich als Austern aus. Und wie steht's nun mit dem Kulturbegriff selbst? Den illustriert anschaulich das große Foto zum Konrad-Artikel. Es zeigt den Ausschnitt eines gediegenen Bücherregals. Werke der Weltliteratur stehen mit goldgeprägtem Rücken vereint beieinander in zwei Reihen, 81 Bände. Dazwischen hat auch noch ein antiker Frauenkopf auf hölzernem Sockel Platz gefunden. Kein Werk der Wirtschaftswissenschaft steht da. An den linken Rand gequetscht steht als einziges Paperback ein Dostojewski in kyrillischer Schrift und am rechten ein mir unbekannter Ungar mit schmucklosem Rücken, herausgegeben von einem deutschen Verlag. Dem hellenistischen Nippes fällt offenbar die Aufgabe zu, über allem abendländisch zu wachen. In jeder Managerbibliothek ist mehr los.

Nun wieder Konrad: „Das Gesetzbuch unseres Humanismus ist die Weltliteratur, und was von ihr in unserer Muttersprache geschrieben worden ist, steht uns näher. Jede exaktere Gesetzesauslegung verwerfe ich. Grundfeste meiner Philosophie ist die Einzigartigkeit der menschlichen Person.“ Nein, die weihevollen Phrasen bleiben nicht im Halse stecken. Generationen von Einzigartigen haben weltweit dieses Gesetzbuch zu spüren bekommen. Und nebenbei bemerkt, was machen Personen mit kleinem Wortschatz? In der EG jedenfalls stehen sich nicht die menschlichen Personen oder souveränen Europäer gegenüber, sondern nach wie vor Klassen. Der Lohnempfänger fühlt sich der Weltliteratur genau so eng verbunden wie der Papua in Neuguinea der deutschen Weihnachtsgans. Das Kulturtümeln und die paneuropäische Schwülstigkeit scheint keineswegs kurzsichtig, wie sich an der herzlichen Anteilnahme der Autoren und Künstler an jedem Kulturrummel zeigt. Das Herrscherlob war schon immer ein kultiviertes Bekenntnis der Made zum Speck. Selbst Herrscherschmähung hat die selben Folgen. Alle stehen Schlange am Lieferanteneingang der Kulturindustrie, was ja noch keine Schande wäre. Schändlich ist aber, dieses mühselige Geschäft zu verschweigen und sich als Subjekt des Prozesses auszugeben, dessen Objekt man ist. Nachtrag

Neueste Nachricht aus Brüssel: Durch die „Veränderungsverordnung der Aufzugsordnung“ ist ab 1992 allen Mitgliedsländern das Betreiben von Paternostern untersagt. Für die Hanseaten bricht eine Beförderungswelt zusammen. Den Süddetuschen kann es egal sein. In ganz Bayern gibt es nur einen Paternoster, den in der 'Süddeutschen Zeitung‘. Sie wird es verschmerzen.

Diese Verordnung ist doch so recht eine Metapher dafür, wie es in Zukunft auf und ab gehen wird, unter größten Sicherheitsvorkehrungen, in geschlossener Fahrgastzelle.