„Auch 'Kronos‘ muß Beitrag leisten

■ Interview mit dem Wattenmeerökologen Professor Karsten Reise

I N T E R V I E W

taz: Nach Ihren Untersuchungen ist die Artenzahl der Meeresfauna im Verklappungsgebiet der Firma „Kronos Titan“, nordwestlich von Helgoland gelegen, um 36 Prozent geringer als in der Umgebung. Welche Tierarten sind davon besonders betroffen?

Reise: Die Anzahl der Krebse, insbesondere der Einsiedlerkrebse und Schwimmkrabben, liegt im Umgebungsbereich dreimal höher als im Verklappungsgebiet. Auch bei den Polypen und Moostierchenkolonien fand ich im Verklappungsareal nur ein Drittel der Tiere im Vergleichsgebiet. Am deutlichsten tritt der Unterschied aber bei kleinen, bodennah lebenden Fischen zu Tage: Dort fand ich in der Verklappungszone der Titan-Dioxid-Industrie sogar nur ein Neuntel der Vergleichsmenge.

Scheidet ein natürlicher Faktor zur Erklärung dieser Differenzen aus?

Wassertiefe und Bodenart sind im Verklappungsgebiet und in der nahegelegenen Vergleichszone identisch, von der natürlichen Voraussetzung her müßten Artenzahl und Tiermenge also gleich sein. Da sie nicht gleich sind, folgt als plausible Erklärung, daß der Unterschied von der Dünnsäureverklappung herrührt.

Fällt die Verklappung angesichts der übrigen Einleitungen überhaupt ins Gewicht?

Die Verklappungsmenge stellt zwar nur ein Bruchteil der ungeheuren Frachten dar, die aus den Flüssen und der Atmosphäre in die Nordsee gelangen. Es geht aber nicht an, den Kommunen und der Landwirtschaft große Auflagen zu machen, wenn eine Industriefirma ihre Abfallstoffe direkt in das Ökosystem Nordsee schütten darf. Immer wieder wird das Argument vorgebracht, die Dünnsäure habe keinerlei Auswirkungen auf das Ökosystem - doch die Fakten sprechen dagegen. Wenn wir Schaden von der Nordsee abwenden wollen, dann müssen alle ihren Beitrag leisten, auch die Firma „Kronos Titan“.

Was an der Dünnsäure schädigt den tierischen Organismus?

Die Säure selber ist nicht das Problem, sie ist durch die schnelle Verdünnung praktisch vollständig neutralisiert, wenn sie den Meeresboden erreicht. Die eigentliche Schadwirkung geht vermutlich von den Schwermetallen aus, die in der Dünnsäure enthalten sind. Daß Blei, Cadmium oder Quecksilber auf jegliches Leben schädlich wirken, ist aus kontrollierten Laborexperimenten zur Genüge bekannt.

Halten Sie weitere Messungen für notwendig?

Nein. Ein zweifelsfreier Nachweis zur Dünnsäure als alleinige Ursache des Artenrückgangs wird ohnehin nie möglich sein. Die Komplexität natürlicher Ökosysteme zwingt uns, Plausibilitätserklärungen als hinlänglich zu betrachten. Die Untersuchung zeigt nun, daß die Verklappung von Dünnsäure tatsächlich schädigende Wirkungen auf das Ökosystem Nordsee ausübt.

Interview: Olaf Stampf